: Chinas Coronawinter ist noch lange nicht vorbei
Überfüllte Notaufnahmen und Wirtschaftsflaute: Der Übergang zum „Leben mit dem Virus“ bringt das Land an seine Belastungsgrenzen. Erst ab Frühjahr dürfte es besser werden
Von Fabian Kretschmer
Das Zhongshan Krankenhaus in Shanghai zählt zu den renommiertesten Kliniken Chinas, über vier Millionen Patienten werden hier jährlich behandelt. Doch seit einigen Tagen herrscht in den Gängen der riesigen Notaufnahme ein anhaltender Ausnahmezustand: Hektisch transportiert das Pflegepersonal riesige Sauerstoffbehälter durch die Korridore, viele von ihnen verrichten ihre Arbeit trotz Covidsymptomen.
Die meist älteren Patienten liegen zu Dutzenden in den Fluren herum, umrundet von besorgten Angehörigen. Einige der Kranken müssen gar bei einstelligen Celsius-Temperaturen im Freien ausharren, wo sie ihre Infusionen verabreicht bekommen.
Knapp einen Monat nach der plötzlichen „Null Covid“-Öffnung in China zeigt sich, dass der harsche Coronawinter für das Land noch lange nicht vorbei ist. In nur wenigen Wochen haben sich im Reich der Mitte mehrere Hundert Millionen Menschen in der Volksrepublik infiziert. Die meisten von ihnen sind zwar bereits wieder genesen, was in den Metropolen Peking und Shanghai wieder zu gut besuchten Einkaufszentren und Restaurants geführt hat. Doch zeitversetzt hält weiterhin eine gesundheitspolitische Tragödie an, die wegen der systematischen Zensur für viele meisten Chinesen im Verborgenen bleibt.
Hinter den Kulissen zeigt sich allerdings deutlich, wie wenig das chinesische Gesundheitssystem auf den Ansturm an Infizierten vorbereitet ist. In den hastig errichteten Fieberkliniken des Landes beträgt die Wartezeit für eintreffende Patienten im besten Fall mehrere Stunden. In Peking berichteten Betroffene immer wieder davon, dass sie aufgrund des eklatanten Platzmangels ihre eigenen Betten mitbringen sollten. Und auch die Versorgung mit grundlegenden Fiebermitteln ist nach wie vor prekär. Auf dem Schwarzmarkt werden Schmerzmedikamente wie Ibuprofen für das Vielfache ihres Wertes gehandelt.
All dies spielt sich, wohl gemerkt, in den wohlhabenden Ostküstenmetropolen ab, deren Gesundheitsversorgung durchaus an (süd-)europäische Standards heran reicht. Der größte Belastungstest bahnt sich hingegen in den chinesischen Hinterlandprovinzen an, wo die Krankenhäuser bereits zu Vorkrisenzeiten unterbesetzt waren und die Ärzte nur rudimentär ausgebildet sind.
Doch spätestens Mitte Januar wird die Coronawelle auch die letzten Winkel des Landes erreichen. Zum traditionellen Neujahrsfest besuchen schließlich Millionen Chinesen ihre Familien in der Heimat. Was normalerweise ein Grund zur Freude wäre, bereitet den Behörden diesmal Kopfschmerzen: „Was uns am meisten Sorgen macht, ist, dass es drei Jahre her ist, seit die Menschen nach Hause reisen konnten, um das neue Jahr zu verbringen. Es könnte nun einen ganz besonders hohen Ansturm von Menschen aus den Städten aufs Land geben“, sagte kürzlich eine Vertreterin der nationalen Gesundheitskommission im Staatsfernsehen.
Die Europäische Union (EU), die auf einem Berg von bald ablaufenden Impfpräparaten sitzt, hat der chinesischen Regierung bereits kostenlose Lieferungen zugesichert. Bislang jedoch ist Peking eine Antwort schuldig geblieben. Das mag von außen betrachtet absurd wirken, doch Beobachter des Landes dürften vom Zögern der Regierung keineswegs überrascht sein: Bislang hat der chinesische Staat nach wie vor keine ausländischen Impfstoffe für die eigene Bevölkerung zugelassen, obwohl die Mrna-Vakzine von Biontech und Moderna den heimischen Totimpfstoffen von Sinopharm und Sinovac überlegen sind.
Doch es überwiegt ganz offensichtlich der patriotische Stolz, und möglicherweise auch Bedenken der nationalen Sicherheit: Man möchte sich nicht vom Westen abhängig machen.
Dort geht bereits die Angst um, dass die massive Coronawelle in China eine weitere Virusmutation begünstigen könnte. Etliche Länder haben bereits verpflichtende PCR-Tests für Einreisende aus der Volksrepublik eingeführt, darunter auch die regionalen Nachbarstaaten Südkorea und Taiwan. Dass das Außenministerium in Peking gegen „unwissenschaftliche“ Diskriminierung wettert, wirkt fast schon ironisch: China selbst hat schließlich während weiter Strecken der Pandemie niemanden ins Land gelassen, der nicht mehrere Wochen Zwangsquarantäne, mehr als ein Dutzend PCR-Tests und mehrere Blutentnahmen über sich ergehen ließ.
Nun hat sich das Blatt gewendet, die einstige „Null Covid“-Bastion ist in wenigen Wochen zum weltweiten Coronahotspot geworden. Angesichts der derzeitigen Lage wirkt die Neujahrsansprache vom Landesvorsitzenden Xi Jinping überaus realitätsfremd. Darin behauptet der 69-Jährige schließlich, dass China von ausländischen Staatschefs großes Lob für seinen Coronakampf erhalten habe. Von der Wahrheit könnte dies nicht weiter entfernt sein: Selbst die zurückhaltende Weltgesundheitsorganisation WHO ermahnte China zuletzt, mehr Daten bezüglich der heimischen Coronalage zu liefern.
Auch die Anzahl an Coronatoten wird von den chinesischen Behörden de facto unter Verschluss gehalten. Nachdem die nationale Gesundheitskommission zuletzt nur mehr schöngefärbte Daten veröffentlichte, hat sie die täglichen Updates jüngst vollständig eingestellt – auf Kosten der eigenen Glaubwürdigkeit, die wohl nachhaltig beschädigt ist.
In den chinesischen Staatsmedien lassen die Zensoren immerhin mittlerweile eine gewisse Pluralität zu. „Wir müssen zugegeben, dass derzeit die Anzahl an Toten in China höher sein wird als in vorangegangenen Jahren“, sagte etwa Tong Zhaohui, Vizeleiter des Pekinger Chaoyang-Krankenhauses, dem Fernsehsender CCTV.
Doch wer konkrete Zahlen in Erfahrung bringen möchte, muss sich mit Schätzungen aus dem Ausland begnügen, die ihre Prognosen auf unvollständige Modellrechnungen stützen. Das Londoner Unternehmen Airfinity ging zunächst von 5.000 Coronatodesfällen pro Tag aus, ehe es den Richtwert vergangene Woche auf insgesamt 9.000 Tote nach oben korrigierte. In den Krematorien Pekings und Shanghais, so berichteten internationale Medien relativ konsistent, würde die Anzahl an Leichen im Vergleich zu Normalzeiten derzeit nahezu das Zehnfache betragen.
Wirtschaftlich sind zumindest die positiven Effekte der Corona-Öffnung am Horizont sichtbar, doch kurzfristig wird der Übergangsprozess ebenfalls schmerzhaft sein. Der am Dienstag vom renommierten Wirtschaftsmagazin herausgegebene Einkaufsmanagerindex „Caixin“ ist im Monat Dezember ein weiteres Mal gesunken, auch der staatliche Einkaufsmanagerindex liegt derzeit auf dem niedrigsten Wert seit Februar 2020. Das bedeutet im Klartext: Die Wirtschaftstätigkeit der in China ansässigen Unternehmen ist Ende des Jahres signifikant geschrumpft.
Am Sonntag meldete sich nun auch Kristalina Georgiewa, bulgarische Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), unmissverständlich zu Wort. „China hat sich 2022 dramatisch abgebremst. Das erste Mal seit 40 Jahren liegt das Wirtschaftswachstum des Landes voraussichtlich unter dem globalen Wachstum – wegen der Null-Covid-Maßnahmen“, sagte die 69-Jährige in einem Interview mit dem US-Sender CBS. Nun sind es die übereilten Lockerungen, die für die nächsten drei bis sechs Monate „schlechte Nachrichten“ bedeuten.
Die rapide Coronawelle könnte allerdings auch dazu führen, dass der Übergang zu einer Art postpandemischen Normalität vergleichsweise schnell erreicht wird. Bislang haben die großen Investmentbanken ihre Wachstumsprognosen immerhin leicht nach oben korrigiert: Goldman Sachs geht etwa für das Jahr 2023 von vormals 4,8 Prozent von nun mehr 5,2 Prozent aus. Verglichen mit dem Niveau, auf dem sich die Volksrepublik vor der Pandemie befand, ist dies jedoch weiterhin zu niedrig.
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