Musiker Chancha Via Circuito: Vom Friseursalon ins Laboratorium
Der Argentinier Chancha Via Circuito arbeitet auf seinem Album „La Estrella“ mit abenteuerlustigen Künstlern. Das klingt angenehm verhuscht.
Was wurde eigentlich aus der unabhängigen Plattenfirma ZZK? Gegen Ende der Nullerjahre gab es um das aus einer gleichnamigen Veranstaltungsreihe in Buenos Aires hervorgegangene Label einen ziemlichen Hype unter den nach vorne schauenden Clubtänzern in den hedonistischen Metropolen der Welt. Künstler*innen wie El Remolón, Frikstailers und Axel Krygier konnten mit ihrer Musik immer wieder auch in Europa Punkte sammeln, und man erwartete, dass sich diese klanglichen Ideen Schritt für Schritt im digitalen Club-Mainstream einnisten würden.
Dass es nicht so kam, lag vielleicht auch daran, dass plötzlich die kolumbianische Metropole Bogotá in Südamerika die Meinungsführerschaft übernahm, mit einer Reihe mächtiger, gleichermaßen live wie im Club hinreißender Formationen wie Systema Solar, Bomba Estéreo und Sidestepper.
Bei ZZK Records hat man es nicht auf einen Konkurrenzkampf mit den umtriebigen Kolleg*innen von Polen Records und *matik-matik* ankommen lassen, sondern man lässt es ruhiger angehen. Und während Labelgründer Grant C. Dull mittlerweile vor allem Dokumentarfilme dreht und ansonsten in anderen Metropolen Lateinamerikas nach Inspirationen sucht, haben die meisten Stammkräfte neue Heimatbasen.
Pedro Canale etwa, der seit fast zwanzig Jahren unter dem Projektnamen Chancha Via Circuito arbeitet und dessen Album „Rodante“ 2008 zu den prägenden ZZK-Veröffentlichungen gehörte, ist mittlerweile beim New Yorker Label Wonderwheel Recordings untergeschlüpft, wo jetzt mit „La Estrella“ sein neues Album erscheint. Es ist sein ambitioniertestes Werk bis dato.
Chancha Via Circuito: „La Estrella“ (Wonderwheel Recordings/ Groove Attack)
Chancha Via Circuito war nie ein Party-Animal wie etwa die Jungs aus dem Systema Solar. Dennoch fällt auf, wie weit sich seine Musik mittlerweile von den Cluberfordernissen entfernt hat. Die Beats wispern eher im Hintergrund, als mächtig herumzudonnern, statt flotter Cumbia-Tempi gibt es melancholische Downtempo-Grooves, und wenn eine heruntergepitchte Stimme in „La rosa china“ leicht weinerlich immer wieder auffordert: „Vamos, vamos a bailar!“ und „Cumbia!“ fordert, klingt das weniger wie ein Ruf auf den Tanzboden als wie eine Veralberung des Cluboptimismus von anno dunnemals.
Mit Sounds kokettieren
Ironie könnte man auch in der Art vermuten, wie Canale immer wieder mit Sounds kokettiert, die man als dritte Ableitungen der Klänge von in älterer südamerikanischer Tanzmusik dominanten Instrumenten wie Panflöte oder Akkordeon lesen könnte. Doch diese leichten inhaltlichen Spitzen können nicht den Eindruck größter handwerklicher Meisterschaft beeinträchtigen. Man merkt, dass Canale schon lange im Geschäft ist und seine Tools gut kennt. Alles klingt absolut ausgewogen, flauschig und gerne angenehm leicht vernebelt und verhuscht.
Allerdings ist auch Canale nicht immun gegen jenes Virus, das sich seit einiger Zeit pandemisch in den Aufnahmestudios und den zu solchen Zwecken genutzten privaten Wohnräumen ausgebreitet hat: Es äußert sich in einem unmäßigen und anlasslosen Einsatz von Hall. Vielleicht weil dieser Gimmick so einfach verfügbar ist und meistens ordentlich Eindruck schindet, wird gerne viel und wahllos mit Räumlichkeit herumgeschleudert.
Auch „La Estrella“ findet in überdimensionierten (Hall-)Räumen statt, als hätte Canale Aufnahmen in leeren Tempeln oder Indiana-Jones-artigen geheimnisvollen Dschungelkatakomben gemacht. Der Eindruck wird noch verstärkt durch Dschungeltierlaute, die an den „Exotica“-Meister, den Kalifornier Martin Denny, erinnern, und immer wieder Geräusche, die fließendes oder tropfendes Wasser assoziieren lassen.
Die richtigen Leute ausgesucht
Diese kleinen Geschmacksverirrungen fallen aber nicht mehr ins Gewicht, wenn sich Canale in den Dienst anderer Künstler*innen stellt. Das tut er auf „La Estrella“ oft – auf mehr als der Hälfte der Stücke werden Gastvokalist*innen eingesetzt. Und er hat sich die richtigen Leute ausgesucht – vor allem Kolumbien stellt bedeutende Kräfte: Da ist etwa die wundervolle Lido Pimienta, deren zerbrechlich-emotionale Performance in „Amor en silencio“ einen eigentümlichen Kontrast zur sie umgebenden kühl-perfektionistischen klanglichen Eleganz liefert.
Da ist Eblis Álvarez, der unter dem Projektnamen Meridian Brothers seit Jahren die kühnsten und lustigsten Cumbia-Abstraktionen produziert und der in „El pavo real“ als Sänger, Texter und Multiinstrumentalist brillieren darf, aber seinen gewohnten unglaublich seltsamen Klangkosmos zu Hause lässt und sich ganz in die klangformenden Hände von Pedro Canale begibt.
Und da sind die Schwestern Juanita und Valentina Añez, die ansonsten in unterschiedlichen Projekten und Kontexten gerne mit Mikrotonalität und anderen merkwürdigen Unsingbarkeiten herumexperimentieren. Die beiden machen aber auch dann noch eine exzellente Figur, wenn sie wie hier in „El peso“ zu Popsängerinnen heruntergezähmt werden.
Drohen seine eigenen Instrumentals mitunter Frisiersalon- beziehungsweise Sonnenuntergang-auf-Ibiza-kompatibel zu werden, kreiert Canale in Zusammenarbeit mit Gästen aus der wilden und experimentierfreudigen Ecke eine Laboratoriumssituation. Sie erzeugt die nötige Reibung, die „La Estrella“ letztlich zu einem tollen Album macht. Vielleicht sollte er sich in Zukunft stärker darauf werfen, mit seiner unbestreitbaren technischen Meisterschaft andere Künstler*innen zu produzieren.
So wie Eblis Álvarez vor drei Jahren das sensationelle Album „Colombiana“ für den spanischen Flamenco-Unkonventionalisten Niño de Elche produzierte, könnte man sich eine Chancha-Via-Circuito-Behandlung gerade für die abenteuerlustigen Kräfte des lateinamerikanischen Musikkosmos gut vorstellen.
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