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Londoner Ausnahme-Künstlerin Lolina„Ich denke immer über Musik nach“

Die estnisch-russische Künstlerin Lolina über ungleiche Besitzverhältnisse im Popbiz, Staaten­losigkeit und Schwierigkeiten beim Neustart.

Diskurspop 2,0: Lolina Foto: Lolina
Julian Weber
Interview von Julian Weber

taz: Lolina, „Music keeps me going like I can’t get enough“ singen Sie im Text zum Song „Music Is the Drug“ von Ihrer aktuellen EP „Face the Music“, drunter liegt ein Dancebeat. Eine konkrete Beschreibung, was Musik mit Ihnen macht. Erklären Sie bitte das Motiv für den Song?

Lolina: Das muss man im Kontext der gesamten EP „Face the Music“ sehen, die mit dem gleichnamigen Song startet. Die Titelzeile steht am Anfang. Face the Music bedeutet im Englischen so viel wie du bist verantwortlich für dein Tun. Diese Phrase habe ich wörtlich genommen: Stell dich der Musik. Im Song wechsle ich zwischen den Bedeutungen hin und her. Einmal zähle ich die Bestandteile des Gesichts (face) auf: Augen, Wangenknochen, Augenbrauen … Dann geht es auch um mich, was passiert, wenn ich auf der Suche nach Musik bin, auf der Straße und in anderen Kontexten, in denen Musik ertönt. Außerdem begebe ich mich im Song „Music Is the Drug“ in einen Club und suche dort nach Musik. Wieder nehme ich es wörtlich, zugleich denke ich dort auch an Drogen. Ich wende mich affirmativ der Musik zu, aber zugleich stelle ich sie in Frage.

Vorhin haben Sie Musik erwähnt, die Sie auf der Straße hören. Da denke ich sofort an London und den Kontext britischer Clubmusik, mit dem Ihr Sound assoziiert wird. Auch wenn Sie Ihre eigene Musik darauf beziehen, hat sie sich gewandelt. Erklären Sie bitte, was Ihnen Dancefloor-Musik bedeutet?

Sie ist sehr wichtig für mich. Ich geriet in die Musikszene überhaupt durch den Dance­floor und das Ausgehen, als ich nach London gezogen bin. Bis heute passieren im Clubkontext immer noch interessante Sachen.

Euphorische Gefühle und affirmative Haltung sind die Basis vieler Popsongs. In der Musik und den Texten Ihres Albums „The Smoke“ ging es um andere Themen: Erschöpfung, Übellaunigkeit, Entfremdung …, nicht nur die Gefühle waren über Kreuz, auch die Musik war experimentell. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Pop eigentlich mögen oder ob Sie gegen seine Regeln aufbegehren?

Oft werde ich gefragt, ob ich den nun Pop mache oder experimentelle Musik. Und ich glaube, die Annahme dahinter ist, dass es zwei grundverschiedene Pole sind. Pop muss nicht notwendigerweise affirmativ sein und experimentelle Musik kann auch eskapistisch klingen. Manche meiner Songs klingen eher wie Pop, andere wie experimentelle Musik, für mich ist das eins. Aber klar, ich reflektiere in meinen Texten das Gefühl, sich entfremdet zu fühlen und hilflos. Aber es sollte auch möglich sein, dass ich es nicht nur reflektiere, sondern darüber hinaus den Prozess der Musikproduktion mitdenke, so dass ich dabei totale Entscheidungsfreiheit habe.

Das war gerade ein Plädoyer für Meta-Popmusik. Schildern Sie bitte, wie sich Ihr früheres Alias Inga Copeland und Lolina voneinander unterscheiden? Und in welcher Beziehung stehen Sie eigentlich als Alina Astrova zu den beiden?

Lolina

Die Künstlerin: geboren 1988 in Samara, UdSSR, gehört Alina Astrova zu den interessantesten zeitgenössischen Pop-Künstler:Innen in England. Bekannt wurde sie als Hälfte des Londoner Pranksterduos Hype Williams (mit Dean Blunt). Seit 2013 als Solistin zunächst unter dem Namen Inga Copeland, seit 2015 als Lolina. Zahlreiche Alben und EPs, alles veröffentlicht auf ihrem eigenen Label.

Das Konzert: Lolina live Freitag 9. 12., beim Festival „Underground Institute“, Silent Green, Berlin

Die Idee, dass ich anders bin als die Persona, die ich darstelle, gab es schon zu Zeiten von Hype Williams. Als ich dann meine Solokarriere begonnen habe, 2013, hat mich besonders interessiert, was ich mit einer Trennung als Ausgangspunkt für Überlegungen anstellen kann. Im Song „Advice to Young Girls“ habe ich im Text eine Trennung eingebaut zwischen mir als jungem Mädchen und mir als erwachsene Künstlerin und jemand, der Ratschläge erteilt. Das habe ich auch beim Sound inszeniert, denn der Gesang klang so, als sei er durch ein Handy aufgenommen. Als ich mich dann Lolina genannt habe, war es eine erneute Trennung. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war, wie ich als Musikerin neu starten kann. Geht das überhaupt, wo mich die Leute schon kennen? Eine Neuerfindung ging nicht. Also habe ich überlegt, was passiert beim zweiten und beim dritten Neustart.

Bei Ihnen schließt man trotz anderer Namen immer auf Sie als Komponistin.

Ja, eben, es gelang mir nicht, Aber ich habe den Neustart dazu genutzt, um laut über Musik nachzudenken. Zum Beispiel auf der Bühne. Oft wähle ich für Konzerte Equipment, mit dem ich mich noch nicht auskenne. Ich habe damals Pionier CDJs für mich entdeckt, pitchbare CD-Spieler. So habe ich mich aus freien Stücken zum Musikamateur gemacht, um die Idee des Neubeginns zu verdeutlichen.

Ihr Album von 2021 haben Sie „Fast Fashion“ getauft. Es geht um die Vergeudung von Ressourcen, die entstehen, wenn Mode für den kurzzeitigen Gebrauch hergestellt wird.

Ich habe damit über den Prozesscharakter von Mode nachgedacht. Das Adjektiv „schnell“ zeigt an, dass es ein Zeitebene in diesem Prozess gibt. Vor „Fast Fashion“ habe ich das Album „Who Is Experimental Music?“ veröffentlicht und davor „The Smoke“. Seine Musik besteht aus klassisch strukturierten Songs.

Sie arbeiten digital, aber denken analog. Wieso?

Fast im Dunkeln: Lolina bei einem Konzert im Londoner Kunstraum Ormside Projects, Sommer 2022 Foto: Ormside Projects

Mein Freund Mark Cremins verknüpfte mich mit dem Willem-Twee-Analog-Studio im holländischen Den Bosch. Die Betreiber wollen verhindern, dass immer mehr altes Equipment in Museen landet und dadurch nicht mehr funktionstüchtig ist. Ich konnte da in aller Ruhe analoge Geräten ausprobieren und landete bei Tonbandgeräten, mit denen ich Soundcollagen kreierte. Ich schnitt mit ihnen, so wie in den 1950ern. Dabei habe ich gelernt, dass bei der digitalen Produktion am Computer vieles rationalisiert wurde.

Wie haben Sie das umgesetzt?

Für die Musik von „Who Is Experimental Music?“ habe ich aus dem Internet Samples genommen, diese am Computer zerlegt und in den iPod-Shufflemodus eingespeist. So wurden sie nach dem Zufallsprinzip abgespielt. Diese Aufnahme habe ich wiederum geloopt und auf USB-Sticks gebrannt, so dass ich sie am CDJ-Spieler anschließen konnte. Die Musik ist digital produziert, aber eine Referenz an den analogen Aufnahmeprozess.

Oder sind Sie eine Konzeptkünstlerin?

Der Prozess dauert viel länger und ist mühevoller, als es meine Beschreibung suggeriert. Für „Fast Fashion“ habe ich monatelang Klangcollagen aus Tonspuren von Modenschauen zu kreiert und diese miteinander vermischt: zwei Modenschauen einer Marke aus unterschiedlichen Jahren.

Ihre Musik klingt stets medialisiert, als würde eine Infoscreen durch den Sound laufen.

Klar, die Verbindung liegt nahe. Aber ich möchte nicht nur darüber nachdenken, was es heißt, in einer Welt zu leben, in der nonstop Bildern und Töne durch uns fließen. Ich erforsche, welche musikalischen Entscheidungen ich daraus ableiten kann.

Was hat es mit Ihrem Alias Lolina auf sich? Spielt es mit Nabokovs „Lolita“? Wie der Schriftsteller leben Sie schon eine Weile im Exil, wobei Sie freiwillig nach London gegangen sind.

Die Nabokov-Connection ist eher eine vage Referenz. Lolina ist eine Kombination aus meinem Vornamen Alina und dem SMS-Kürzel Lol. Nix Ernstes. Wo sie jetzt nach meinen Wurzeln fragen: Ich bin noch zu Sowjet­zeiten geboren, in Samara. Meine Eltern sind mit meinem Bruder und mir zur Jahreswende 1989/90 nach Estland gegangen. Damals hatte ich nur eine Geburtsurkunde. Nach der estnischen Unabhängigkeit 1991, als es um die Staatsangehörigkeit ging, konnten Menschen, die wie ich nicht in Estland geboren sind, nicht automatisch estnische Staatsangehörigkeit beantragen. Mein erster Pass war ein graues staatenloses Dokument. Ich hatte das Aufenthaltsrecht, aber war keine estnische Bürgerin. Im Alter von 16 konnte ich mich einbürgern lassen, habe ich auch getan. Es muss ungefähr zur selben Zeit gewesen sein, als Estland der EU beigetreten ist. Danach war es mir möglich, in England zu leben. Nach dem Brexit, 2017, musste ich mich um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bemühen, um weiterhin in England leben zu können. Einerseits habe ich als Immigrantin die Erfahrung gemacht, dass Nationalität sich ändern kann. Andererseits ist meine Nationalität nicht die einzige Verbindung zu den Orten, an denen ich gelebt habe. Ich spreche alle drei Sprachen und kenne Menschen in allen drei Ländern.

Was sagen Sie zum Krieg?

Wenn ich jetzt sage, ich bin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und gegen Putin, tue ich das aus einer Position, die mit allen drei Ländern verbunden ist. Ob ich will oder nicht, ich bin auch eine Verbindung, die zwischen ihnen existiert.

Wie sieht Ihr Alltag in London aus? Sie sind Teil einer Musikszene, die sich an Orten wie dem Café Oto abspielt. Es gibt eine osteuropäische Workingclass-Diaspora und es gibt reiche Russ:Innen, die dem schönen Leben von Londongrad frönen. Was kriegen Sie davon mit?

Ja, ich gehöre zur Musikszene, die sich an Orten wie dem Café Oto und dem Kunstraum Ormside Projects abspielt. Das reiche Stadtleben ist davon meilenweit entfernt. Es ist eine Gated Community: Als einige Anarchisten eine leerstehende Oligarchen-Villa besetzt haben, um gegen den Krieg zu protestieren, griff die Polizei sofort ein. Die ungleiche Verteilung von Wohlstand betrifft alle. Meine Lebensbedingung als Mu­si­ke­rin ist näher an denen von osteuropäischen und anderen Migranten. Ich komme aus der Mittelklasse, so wie die meisten in den Clubs. Als Musikerin weiß ich zumindest über die Besitzverhältnisse in meinem Metier bescheid. Ich betreibe mein eigenes Label, besitze die Mastertapes, habe die Rechte an meiner Musik.

Wie definieren Sie Schönheit? Ihr Werk wurde oft als „Anti-Musik“ bezeichnet.

Über Schönheit in Musik nachzudenken empfinde ich als eskapistisch. Wenn sich Musik um Schönheit und Eskapismus dreht, dann mache ich Anti-Musik. Aber das ist vielleicht zu einfach, denn ich denke gerne darüber nach, was Musik ist, was sie sein könnte.

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