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Prozess gegen ehemalige KZ-SekretärinEin Urteil, das in die Zukunft weist

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Mit Irmgard F. ist wohl zum allerersten Mal eine KZ-Zivilangestellte zur Rechenschaft gezogen worden. Der Schuldspruch ist in vielerlei Hinsicht bedeutend.

Ein Rad in der Vernichtungsmaschinerie: Die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. bekam eine Bewährungsstrafe Foto: Nora Carol/getty

Z wei Jahre auf Bewährung für Beihilfe zum Mord an mehr als zehntausend Menschen, das hört sich nach einem extrem unverhältnismäßigen Urteil an. Doch es gilt bei der Strafe für eine frühere Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof einiges zu berücksichtigen: Irmgard Furchner hat mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht selbst getötet. Sie saß auf keinem Wachturm und legte nicht selbst Hand an. Ihre Waffe war eine Schreibmaschine. Ihre Tätigkeit – wie die vieler weiterer KZ-Bediensteter – diente dazu, den Lagerbetrieb aufrechtzuerhalten.

Die Sekretärin war ein Rädchen im Getriebe einer Todesmaschine, der in Stutthof in der Nähe des damaligen Danzig 65.000 Menschen zum Opfer fielen – nicht mehr und nicht weniger. Ein hohes Alter schützt nicht davor, wegen Beihilfe zum Mord zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Das Urteil von Itzehoe ist in dreifacher Hinsicht bedeutend. Erstens macht es deutlich, dass Deutschland auch fast 80 Jahre nach der Niederschlagung des NS-Regimes die Taten aufzuklären bereit ist – viel zu spät für die meisten mutmaßlichen Mörder, aber immerhin.

Zweitens ist mit Irmgard Furchner wohl zum allerersten Mal eine Zivilangestellte eines KZ zur Rechenschaft gezogen worden. Das zeigt, dass es zum Mord eben nicht unbedingt einer Schusswaffe, einer tödlichen Spritze oder Giftgases bedarf. Auch eine Schreibkraft kann sich schuldig machen, wo Menschen planmäßig getötet werden.

Daraus erwächst die dritte Komponente. Das Landgericht Itzehoe hat zwar ein Urteil gegen eine Person gefällt, deren Taten lange zurückliegen. Doch der Schuldspruch weist auch in die Zukunft. Er macht deutlich, dass künftig bei ähnlichen Verbrechen auch diejenigen die bundesdeutsche Justiz zu fürchten haben, die „nur“ die Schreibarbeit in einem Lager erledigt haben.

Das hört sich akademisch an, ist es aber nicht: Wer heute in der Ukraine Morde begeht oder dabei behilflich ist, könnte in vielen Jahren in Deutschland vor Gericht gestellt und verurteilt werden, sollte er oder sie einmal auf die Idee kommen, Urlaub im Schwarzwald zu machen.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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15 Kommentare

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  • 6G
    650228 (Profil gelöscht)

    Dass man nach 1945 auf die Nazi-Juristen angewiesen war ist eine bloße Ausrede. Jura ist nicht Quantenphysik. Wer einigermaßen lesen und schreiben kann, kann innerhalb von 6 bis 12 Monaten so ausgebildet werden, dass er zumindest in einem Rechtsgebiet einigermaßen vernünftige Urteile fällen kann. Und mehr wäre ja zunächst auch nicht notwendig gewesen. Spätestens nach 5 Jahren wäre dann eine neue, unbelastet Generation von Volljuristen am Start gewesen. So eine Heuchelei...

    • @650228 (Profil gelöscht):

      Liggers. Weiter östlich ist das ja versucht worden - Barfußrichter meets Barfußärzte¿!;)(( Also bitte nicht so kleinlich mit ihrer Profession! Gelle.



      (ps meine Schwiegermutter - im Roten Kreuz hoch angesiedelt. Erzählte mir ganz arglos Namen - die frauman unter der Hand gekannt - & heute - lot a time later ein jeder kennt.



      (Damit’se mich nicht falsch verstehen: schon als Refi & sodann als Proberichter mit Kriegsfolgenrecht befaßt: das schließlich “1:4 Huckepackverfahren“ - ein einziger Skandal! Schon mein



      1.Direx - Schönbrunn - Reformpädagoge & Jude - der danach Dr. Braune (sic) exNapola zog altNazis einen nach dem anderen nach sich! Einer - Hillmann - Napola Schul-Pforta - wurde verhaßter Direx Gelehrtenschule Ratzeburg! Gymnasium Plön (exKadetten/Napola) hab ich schon mal näher ausgeführt.)

      So geht das ©️ Kurt Vonnegut



      “Sei vorsichtig, was du vorgibst zu sein, denn du bist, was du vorgibst zu sein.“

      kurz - In ehra Großmäuligkeit negligable - sinse naturellement mein ganz heißer Kandidat für Nancy Fraenzis Reformkommision JurAusbildung die Vxxxlte! Woll.

      • 6G
        650228 (Profil gelöscht)
        @Lowandorder:

        Wahrscheinlich wären am Anfang nicht alle Urteile "juristisches Hochreck" gewesen, sondern eher am Wortlaut der Gesetze orientiert. So what? Dafür hätte man in Westdeutschland spätestens ab 1960 eine nazifreie Justiz gehabt. Und das wäre viel wichtiger gewesen.

        • @650228 (Profil gelöscht):

          Ja - der Kalk der Vorurteile rieselt in den Hirnwindungen unverblümt! Woll.



          Ansonsten - ganz dabei - nur “hätte hätte Fahrradkette.“ Kost nix - wa. But.



          Als auf der Tagung “Justiz und Nationalsozialismus“ mit JuMi Bäckchen Behrens ein von mir sehr geschätzter Weggefährte - im Nachhinein Verständnis für ”Globke & Co“ äußerte!



          Gab’s Langholz & “ob es nicht wenigstens zu betrauern sei und diese Republik nämlich eine andere wäre.“



          & btw entre nous only =>



          (ps was die “Barfußrichter“ SBZ/DDR angeht - hatte kurz vor der Wende das durchaus gemischte Vergnügen einzelne derer Ziehkinder in Berlin Mitte (& bis Zur letzten Instanz -;) zu erleben!



          Anyway - “…sie waren Sheriffs der Partei!“ Bitter aber wahr!;((



          ——-



          de.wikipedia.org/w...Landgericht_Berlin



          zurletzteninstanz.com/

          • 6G
            650228 (Profil gelöscht)
            @Lowandorder:

            “…sie waren Sheriffs der Partei!“

            Ja, das ist wohl systembedingt. Im Westen wären sie halt Sheriffs der FDGO geworden.

            • @650228 (Profil gelöscht):

              Sach mal so: Medizinstudium wird - wie ich vielfach & vielfältig beobachten konnte - mit dem Arsch bewältigt.

              kurz - Ehran Brotberuf hamse ja scheint’s! Woll.



              Von Jura aber - würde ich demgegenüber dringend abraten! Gelle.



              Da fehlt‘s - wie’s so schön heißt - “einfach an allem!“ Wollnichwoll.



              servíce & immer Gern&Dannnichfür

  • Was für eine Schönrederei. Dieses einzelne Urteil steht in überhaupt keinem Verhältnis zum allgemeinen Umgang mit den Tätern (und im engeren Sinne deutlich weniger: Täterinnen) nach 1945. In Deutschland gab es juristisch und gesellschaftlich keine Entnazifizierung, bis heute. In diesem Kontext von »zukunftsweisend« zu sprechen, rund 80 Jahre nach diesem Menschheitsverbrechen, das ist Realsatire.

    • @smallestmountain:

      Wenn Sie Ihren und den von V M zusammentun kommen wir zu einem Konsens.

      Die Bezeichnung "Realsatire" ist meiner Meinung etwas zu verächtlich.

  • Spät, aber nicht zu spät.

    Es ist schon beschämend wie Deutschland sich vor seiner Verantwortung drückt.

  • In der Bild rechnet Historiker Michael Wolffsohn angesichts des Urteils zurecht mit der deutschen Nachkriegsjustiz ab.

    www.bild.de/politi...ure-heuchelei-8231

    Die vermeintlich weißen Westen der Justiz waren nach dem 2. Weltkrieg zumeist dunkelbraun, die danach folgende Justiz-Generation hatte in Bezug auf braun eine enorme Farbschwäche, eine Problematik, die auch alle anderen akademischen Disziplinen in Deutschland betraf, also die gesamte Elite des deutschen Volkes.

    Erst als die meisten in der dunkelbraun durchwirkten BRD-Justiz tot oder außer Amtes waren, traten laut Wolffsohn die (Schein)-Mutigen in der Justiz hervor, um "Gerechtigkeit" bei Nazi-Massenverbrechen zu schaffen, was auch angesichts des derzeitigen Urteils nach dem Jugendstrafrecht eine Justiz-Farce ist, denn der engagierte Richter am Landgericht verpasste die historische Chance, das fast komplette Versagen der deutschen Justiz bei der Verfolgung der Massenverbrechen der Nazis zu thematisieren und deren weitere Aufarbeitung anzumahnen.

    Ehemalige Nazis unter deutschen Eliten gab es nach dem 2. Weltkrieg überall, auch in den Medien, die viel zu wenig taten, um Justiz und Politik zur Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Justiz anzuhalten. Dies spielte auch bei der Entschädigung der NS-Verbrechen an Juden durch Justiz und Verwaltung eine enorm wichtige Rolle.

    Denn die Entschädigungssummen die Deutschland oder individuelle Täter angesichts der Shoa an jüdische Organisationen, Überlebende und den Staat Israel zahlten, waren angesichts der ungeheuren Dimension der menschlichen Verbrechen und der gewaltigen Dimension der vernichteten jüdischen Vermögen in Deutschland und anderen Ländern eine Farce.



    Irmgard F. ist eines der letzten lebenden Symbole dafür, wir gut es ehemalige Nazi-Verbrecher in der BRD bis heute hatten. Das Urteil verweist deshalb in die fatale BRD-Vergangenheit und hoffentlich nicht in die Zukunft der BRD.

  • Danke für den Artikel, ABER: der twist zur Ukraine … ja, der einmarsch und die Bestialität Russlands sind absolut verachtenswert. Dennoch ist es eine ziemliche Verharmlosung der Shoa hier dann von „ähnlichen Verbrechen“ zu reden.

  • Dann sind die Eisenbahner auch bald fällig.

  • "Ein Urteil, das in die Zukunft weist"?



    In die Zukunft zeigt da fast gar nichts, denn fast alle Täter und Opfer sind schon verstorben. Da hättet ihr 70 Jahre früher mit der Strafverfolgung anfangen müssen.



    Ich finde die juristische Aufarbeitung des Holocaust eine Schande und schäme mich dafür.

    • @Rudi Hamm:

      Verstehe ich jetzt nicht.



      Meinen Sie die Nicht-Aufarbeitung in den letzten Jahrzehnten?



      Oder die Aufarbeitung, die jetzt noch erfolgt (besser spät als nie)?

      • @Eric Manneschmidt:

        Ich meine die Aufarbeitung der letzten Jahrzehnte.