Prozess gegen ehemalige KZ-Sekretärin: Ein Urteil, das in die Zukunft weist
Mit Irmgard F. ist wohl zum allerersten Mal eine KZ-Zivilangestellte zur Rechenschaft gezogen worden. Der Schuldspruch ist in vielerlei Hinsicht bedeutend.
Z wei Jahre auf Bewährung für Beihilfe zum Mord an mehr als zehntausend Menschen, das hört sich nach einem extrem unverhältnismäßigen Urteil an. Doch es gilt bei der Strafe für eine frühere Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof einiges zu berücksichtigen: Irmgard Furchner hat mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht selbst getötet. Sie saß auf keinem Wachturm und legte nicht selbst Hand an. Ihre Waffe war eine Schreibmaschine. Ihre Tätigkeit – wie die vieler weiterer KZ-Bediensteter – diente dazu, den Lagerbetrieb aufrechtzuerhalten.
Die Sekretärin war ein Rädchen im Getriebe einer Todesmaschine, der in Stutthof in der Nähe des damaligen Danzig 65.000 Menschen zum Opfer fielen – nicht mehr und nicht weniger. Ein hohes Alter schützt nicht davor, wegen Beihilfe zum Mord zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Das Urteil von Itzehoe ist in dreifacher Hinsicht bedeutend. Erstens macht es deutlich, dass Deutschland auch fast 80 Jahre nach der Niederschlagung des NS-Regimes die Taten aufzuklären bereit ist – viel zu spät für die meisten mutmaßlichen Mörder, aber immerhin.
Zweitens ist mit Irmgard Furchner wohl zum allerersten Mal eine Zivilangestellte eines KZ zur Rechenschaft gezogen worden. Das zeigt, dass es zum Mord eben nicht unbedingt einer Schusswaffe, einer tödlichen Spritze oder Giftgases bedarf. Auch eine Schreibkraft kann sich schuldig machen, wo Menschen planmäßig getötet werden.
Daraus erwächst die dritte Komponente. Das Landgericht Itzehoe hat zwar ein Urteil gegen eine Person gefällt, deren Taten lange zurückliegen. Doch der Schuldspruch weist auch in die Zukunft. Er macht deutlich, dass künftig bei ähnlichen Verbrechen auch diejenigen die bundesdeutsche Justiz zu fürchten haben, die „nur“ die Schreibarbeit in einem Lager erledigt haben.
Das hört sich akademisch an, ist es aber nicht: Wer heute in der Ukraine Morde begeht oder dabei behilflich ist, könnte in vielen Jahren in Deutschland vor Gericht gestellt und verurteilt werden, sollte er oder sie einmal auf die Idee kommen, Urlaub im Schwarzwald zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“