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Wissenschaftler diskutieren MythosWeniger Armut dank Kapitalismus?

Seit Jahrzehnten wird behauptet, dass Kapitalismus gegen extreme Armut hilft. Eine neue Studie zeigt: So simpel ist es nicht.

Sichtbare Armut am Rande von Buenos Aires Foto: Agustin Marcarian/reuters

Es gibt ein Diagramm, entworfen von dem Wirtschaftswissenschaftler Martin Ravallion und bekannt gemacht von dem Psychologen und Bestsellerautor Steven Pinker, das beweisen soll, dass der Kapitalismus Armut beseitigt. Es beginnt im Jahre 1820 und zeigt anhand einer Linie, die stetig sinkend gegen null läuft, den Anteil in extremer Armut lebender Menschen auf der Welt, die weniger als 1,90 Dollar Kaufkraft pro Tag zur Verfügung haben.

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Nur: Stimmt das so? Bis 1981 beziehen sich die Daten, auf denen das Diagramm beruht, auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Davon wird die Kaufkraft der Menschen abgeleitet. Wenn Menschen neben der Lohnarbeit noch Nahrung selbst angebaut haben oder sich von Gemeingütern bedienen konnten, taucht das nicht auf. Dazu kommt, dass der Zusammenhang zwischen BIP und Versorgungslage empirisch widerlegt ist: Wenn im Zuge der Kolonisierung auf vormaligen Maisfeldern nun Baumwolle angebaut wird, schlägt sich das im BIP als wachsender Umsatz des Grundbesitzers nieder. Die Nahrungsmittelversorgung der Bauern verschlechtert sich aber eher.

Die Studie

Deshalb haben Dylan Sullivan und Jason ­Hickel für eine Studie, die in der Fachzeitschrift World Development veröffentlicht wurde, eine andere Perspektive eingenommen. Um extreme Armut zu entdecken, nutzen sie drei Indikatoren. Zuerst schauen sie sich die Reallöhne ungelernter Ar­bei­te­r*in­nen in Städten an, weil diese Gruppe häufig extrem arm ist. Sie rechnen die Löhne auf einen Einkaufskorb der Grundbedürfnisse herunter, der auf historischen Preisdaten basiert. Außerdem nutzen sie Daten über durchschnittliche Körpergröße, weil sich daran Unterernährung und Krankheiten ablesen lassen, und über die Sterblichkeit. Alle Indikatoren haben ihre Schwächen. Zum Beispiel kann die durchschnittliche Körpergröße trotz vieler armer Menschen hoch sein, weil aufgrund starker Ungleichheit reiche Menschen sehr groß sind. Weil die Autoren drei verschiedene Indikatoren kombinieren, sind die beobachteten Trends aber verlässlich.

Mit Ausnahme von Europa zeigt sich in den untersuchten Regionen – Lateinamerika, südliches Afrika, Südasien und China –, dass die Reallöhne kollabieren, die Körpergröße sich verringert und die Sterblichkeit steigt, sobald die Regionen in den Weltmarkt eingebunden werden. Hungersnöte werden häufiger. Keine Spur mehr vor der sanft absinkenden Kurve.

Was bringt’s?

Interessanterweise erholen sich alle drei Indikatoren meist, wenn die beobachteten Länder demokratischer werden. Das kann verschiedene Gründe haben – hier fehlt noch robuste Forschung zu den Kausalitäten. Aber nur mit „dem Kapitalismus“ lässt es sich auf jeden Fall nicht erklären. Wenn Ihnen also jemand aus der Familie an Heiligabend das Ravallion-Diagramm zeigt, können Sie sagen: Ganz so simpel ist es nicht.

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1 Kommentar

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  • Wow, ohne in die Details eingelesen zu haben, die Forschenden haben teilweise das tägliche Einkommen seit dem 16 Jhrd, basierend auf einer Familie mit 250 Tagen Arbeit pro Jahr berechnet. Erstaunliche Datenbasis.



    Aber zur Diskussion: auch die Kurven in der Untersuchung zeigen tendenziell nach oben, also weniger Armut, höhere Körpergröße.



    Schade, dass die Kurven nicht einen Ausgleich für Bevölkerungsdichte bezogen auf die Fläche, die einen Selbsterhalt ermöglicht, enthalten.