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Kolumne PöbelmanieVier Wände für ein Alles Super

Marie Frank
Kolumne
von Marie Frank

Wer Obdachlosigkeit wirklich abschaffen will, darf nicht das Kapital bestimmen lassen, wer in dieser Stadt leben darf und wer nicht.

Für Obdachlose bedeutet der Winter Lebensgefahr Foto: Annette Riedl/dpa

E ins vorneweg: Ich hasse den Berliner Winter. Er ist kälter, als ich es aus Hessen gewohnt bin, und dauert gefühlt doppelt so lange. Weihnachtsmärkte kann ich mir nicht leisten, außerdem ist mir das Risiko zu groß, dort auf die Regierende Franziska Giffey zu treffen und mir ihre heuchlerischen Reden anhören zu müssen: dass die Menschen jetzt nur zusammenstehen müssen, dann wird die Welt schon wieder in Ordnung. So gesehen gibt es in Berlin doch etwas, was ich noch mehr hasse als den Winter.

Was wir in unseren beheizten Wohnungen nicht fühlen, ist die Kälte, die Obdachlosen bis in die Knochen dringt.

Das Einzige, was diese Jahreszeit für mich einigermaßen erträglich macht, sind die wenigen Tage, in denen der Schnee für kurze Zeit liegen bleibt. Für einen winzigen Moment sorgt das weiße Treiben für ein wenig Spiel und Spaß auf den flachen Hügeln der Hauptstadt – bevor diese im grauen Matsch versinkt, der gemeinsam mit dem grauen Himmel und den grauen Häuserschluchten eine einzigartige Komposition aus Großstadt-Tristesse und Trostlosigkeit formt.

„Fühl ich“, mögen sich einige jetzt denken. Was wir in unseren beheizten Wohnungen allerdings nicht fühlen, ist die Kälte, die den Tausenden Menschen, die in Berlin auf der Straße leben, zu dieser Jahreszeit bis in die Knochen dringt. Für die ist nämlich gar nichts in Ordnung, liebe Franzi. Für sie bedeuten die nächsten Monate nichts weniger als Lebensgefahr. In den sozialen Medien häufen sich derzeit daher auch wieder die alljährlichen Appelle, solidarisch zu sein und auf Obdachlose zu achten – und im Fall der Fälle den Wärmebus zu rufen: 030 600 300 1010.

Obdachlosigkeit beenden

Leider bringt der Bus den Menschen keine dauerhafte Wärme. Das kann, wie allgemein bekannt ist, nur eine eigene Wohnung. Und natürlich eine Heizung, deren Kosten man sich auch erst mal leisten können muss. Bis zum Jahr 2030 will der rot-grün-rote Senat Obdachlosigkeit beenden. Wie dieses ambitionierte Ziel erreicht werden kann, darüber wird noch bis Donnerstag auf der Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe beraten.

Herzstück der zweiwöchigen Veranstaltung ist das „Erfolgsprojekt“ Housing First. Für alle, die es noch nicht wissen: Seit vier Jahren werden darüber Menschen ohne Vorbedingungen in Wohnungen vermittelt. Nach dem Motto: Erst mal weg von der Straße, dann kann man sich immer noch um Probleme wie Drogensucht oder psychische Krankheiten kümmern – unter denen laut Studien ein Großteil der Obdachlosen leidet.

Klingt super, ist es auch, hat allerdings einen Haken: In den vier Jahren, die es das Projekt mittlerweile in Berlin gibt, konnten nicht einmal 100 Menschen von der Straße in die eigenen vier Wände vermittelt werden. Gerechnet auf 2.000 Obdachlose, die in der Hauptstadt offiziell gezählt wurden, würde es bei diesem Tempo 80 Jahre dauern, bis alle Obdachlosen eine eigene Wohnung haben.

Zum Vergleich: Durch die Besetzung der lange teils leer stehenden Habersaathstraße 40–48 in Mitte haben auf einen Schlag 60 Obdachlose ein neues Zuhause gefunden. Besetzungen sind halt immer noch das effektivste Mittel, um das Recht auf Wohnen durchzusetzen.

Was können wir also tun, um den vielen Menschen auf der Straße zu helfen? In unserem Hausprojekt wird viel darüber diskutiert, und in besonders kalten Monaten haben wir auch immer wieder Obdachlose aufgenommen – um dann zu merken, dass ihnen mit Zwischenlösungen nicht geholfen ist, wenn sie danach wieder auf der Straße landen. Abgesehen davon, dass wir den nötigen Betreuungsbedarf, den viele Obdachlose durch ihre multiplen Problemlagen zweifellos haben, überhaupt nicht leisten können.

So gut und wichtig es ist, Obdachlose mit individuellen Hilfestellungen im Alltag zu unterstützen, strukturelle Probleme lassen sich so nicht beseitigen. Und die liegen in Berlin wie so oft in einer verfehlten Stadtpolitik. Wer Obdachlosigkeit wirklich abschaffen will, darf nicht das Kapital bestimmen lassen, wer in dieser Stadt leben darf und wer nicht.

Blockade statt Weihnachtsmarkt

Das fängt beim Erhalt und bei der Schaffung von günstigem Wohnraum an und hört bei Zwangsräumungen nicht auf. Immerhin werden in kaum einer anderen Großstadt so viele Wohnungen zwangsgeräumt wie in Berlin. Statt zum Weihnachtsmarkt gehe ich in diesem Winter lieber zur Blockade der nächsten Zwangsräumung – da ist auch die Chance geringer, auf Franziska Giffey zu treffen.

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Marie Frank
Leiterin taz.berlin
Leiterin taz Berlin und Redakteurin für soziale Bewegungen, Migration und soziale Gerechtigkeit. Hat politische Theorie studiert, ist aber mehr an der Praxis interessiert.
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1 Kommentar

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  • Danke für die Kolumne. Es ist wirklich sehr wichtig umzusteuern in der Wohnungspolitik. Wohnen ist ein Menschenrecht und gehört nicht in den Rachen und in die Finger der Finanzhaie des Investmentkapitals.

    Zaubersätze hin zu mehr Gemeinwohl können z.B. sein:

    - Massive Förderung des sozialen Wohnungsbaus (Beispiel Wien)







    - durch Verbot von privatem Bodenrecht (zuerst) in (hochverdichteten) urbanen Gebieten

    - durch (entschädigungslose) Rekommunalisierung börsennotierter Wohnungskonzerne







    Ziel: Ende der Boden- und Wohnungsspekulation (siehe auch Artikel 15 GG)

    Müssen nur wollen.

    PS: Franziska Giffey will anscheinend keine Rekommunalisierung der börsennotierten Wohnungskonzerne. Möglicherweise könnte es sinnvoll sein, sie mal zu fragen warum sie die antisoziale Wohnungspolitik als Mitglied einer Sozialen Partei noch immer weiter laufen läßt.

    Oder einfach anders wählen bei der nächsten Wahl.

    Die (ehemals) Soziale Partei Deutschlands ist schließlich dafür bekannt seit nunmehr 20 Jahren im Kern antisoziale Politik zu machen.