Autofreie Berliner Friedrichstraße: Fünfhundert Meter Streit
In der Friedrichstraße finden Verkehrsberuhigung nicht alle gut. Bald kehren die Autos zurück. Doch die nächste Sperrung ist schon geplant.
E s sind nur rund fünfhundert Meter, die in Berlin und der halben Republik aktuell eine Debatte über die Möglichkeiten und Misserfolge der Mobilitätswende entfachen. Einhundert Sekunden Radfahrvergnügen auf einer autofreien Straße, ein paar Meter mehr Platz für Cafés, Sitzgelegenheiten und Ausstellungsflächen. Aber keine Autos mehr und auch keine Parkplätze.
Der Umbau der berühmten Berliner Friedrichstraße stellt bisher den ambitioniertesten Versuch der Stadtregierung dar, „die Mobilitätswende konkret erfahrbar machen“ und zudem die Straße „als traditionsreiche Einkaufs- und Geschäftsstraße zu stärken“, wie es zur Begründung heißt.
Oder besser hieß? Denn dem seit dem August 2020 laufenden Verkehrsversuch „Flaniermeile Friedrichstraße“ wurde nun durch ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom 25. Oktober ein Ende gesetzt. Die Ladenbesitzerin Anja Schröder hatte gegen die Sperrung für den Autoverkehr geklagt. Ihre Begründung: Die Sperrung führe zu wirtschaftlichen Verlusten für die Geschäfte sowohl auf der Friedrichstraße als auch in den Nebenstraßen, da der dorthin ausweichende Verkehr „zu einer schlechten Aufenthaltsqualität auf den Außenterrassen führt“. Anja Schröder hat den Prozess gewonnen. In wenigen Tagen werden Autos die Straße zurückerobern. Pustekuchen für die „Flaniermeile“.
Start: Unter den Linden/Friedrichstraße
Dort wo sich Friedrichstraße und die Prachtstraße Unter den Linden kreuzen, dort wo der Puls des historischen Berlins schlägt, verfügt der Volkswagen-Konzern über einen großzügigen Ausstellungsraum in begehrtester Innenstadtlage, mit großen Fenstern zu beiden Straßen und gediegenem Ambiente im Inneren. Hier wird Besucher:innen veranschaulicht, wie sich der Autobauer die Zukunft der Mobilitätswende vorstellt: Unter einer Leuchtschrifttafel, auf der der Spruch „Vorsprung durch Technik“ prangt, werden verschiedene Pkw-Modelle mit Elektroantrieb präsentiert. Das also soll die Zukunft werden.
Klimaaktivst:innen haben den Ausstellungsraum im letzten Jahr besetzt, um „VW’s Greenwashingparty zu crashen“, wie sie schrieben. Elektroautos führten weder zu einem sozial gerechten Zugang zu Mobilität, noch würden sie den Ansprüchen der Klimaziele gerecht.
Ganz ähnlich sieht das auch die Berliner Verkehrssenatorin Bettina Jarasch von den Grünen: Es brauche „weniger Autos, nicht nur andere, saubere Autos“, sagte sie in einem Interview. Und hat entsprechend gehandelt.
Erster Stopp: Galerie Lafayette
An der Stelle, wo die Einschränkung des Autoverkehrs auf der Friedrichstraße beginnt, verweist nur noch wenig auf den vorgeblichen Modellcharakter, den das Projekt ursprünglich einmal angestrebt hat: vier Absperrungen verengen die Straße, gelbe Markierungen grenzen einen Fahrradweg von dem Teil ab, auf dem nun Pflanzenkübel, Sitzgelegenheiten aus Holz und Blech und Bereiche für die ansässigen Gastronomiebetriebe Platz gefunden haben.
Am Kopf dieser „Flaniermeile“ hat die deutsche Filiale der französischen Luxuskaufhauskette Galeries Lafayette in einem 1990er-Jahre-Bau ihren Sitz. In der achttausend Quadratmeter umfassenden Verkaufsfläche mit Kultstatus ist es zur Mittagszeit gespenstisch leer.
Mehr Stimmung findet sich an der südlichen Ecke der Galerie. Dort begleitet ein Musiker mit dem Künstlernamen RadioLukas sich selbst auf einem blau gestrichenen Klavier, das er auf einem Lastenfahrrad durch die Stadt bewegt. Durch den ausbleibenden Straßenverkehr auf der Friedrichstraße „klingt die Musik viel mehr, es ist endlich mal Akustik in Berlin“, lobt er. Aber für eine gelungene Umsetzung bräuchte es für den Künstler noch „mehr Bänke, Spielzeuge für Kinder, mehr Pflanzen“.
Claudia Löffler ist als Pressesprecherin des Berliner ADAC eine zuverlässige Vertretung der Interessen von Autofahrern. Sie „begrüßt die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts“, Autos wieder in den gesperrten Teil der Friedrichstraße zu lassen. Ann-Kathrin Schneider, Bundesgeschäftsführerin des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs, sieht das wenig überraschend genau umgekehrt. Sie sieht in dem Urteil ein weiteres Beispiel dafür, „dass der Autoverkehr durch das veraltete Straßenverkehrsgesetz immer Vorrang hat und alle anderen Verkehrsarten untergeordnet werden“.
Der Streit um die Friedrichstraße wird freilich nicht nur zwischen Lobbygruppen, Anwohner:innen und Ladenbesitzer:innen ausgetragen, nebst heftiger Kritik der Berliner Oppositionsparteien CDU und FDP am vorgeblich so autofeindlichen Senat. Das Urteil hat auch die Konfliktlinien innerhalb der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung offengelegt. Neuwahlen stehen vor der Tür, es ist Zeit für Profilierungen.
Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) verlangte nach dem Urteil die sofortige Freigabe der Straße für den Autoverkehr. Die grüne Verkehrssenatorin Bettina Jarasch mochte dem anfangs nicht folgen. Sie warf Giffey vor, das Urteil nicht verstanden zu haben und ihre Kompetenzen zu überschreiten.
Doch dann ließ Jarasch die Frist, um Beschwerde gegen das Urteil in der nächsthöheren Instanz einzulegen, widerspruchslos verstreichen. Und deshalb muss die Friedrichstraße nun bis zum 22. November wieder vollständig für den Autoverkehr freigegeben werden. Zur Fußgängerzone umgebaut werden könnte sie dann später.
Am Streit um rund fünfhundert Meter zeigt sich, dass Radikalität und Schnelligkeit allein nicht reichen, um Verkehr neu zu ordnen. Es geht um die rechtlichen Möglichkeiten, die Straßenverkehrsordnung zu reformieren, um die Frage, wie Sicherheit für verschiedene Verkehrsteilnehmer:innen gewahrt werden kann.
Und es geht um die Standards für eine gelungene Umsetzung eines Verkehrsversuchs: Welche wirtschaftlichen Konsequenzen müssen in Kauf genommen werden, was wünschen sich Bürger:innen für die Gestaltung einer „Flaniermeile“ und wie viel Zeit darf sich ein Senat einräumen, um all diese Fragen gesellschaftlich auszuhandeln? Welche Menschen und Räume in diesem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess aktuell auf der Friedrichstraße interagieren, wird auf einer Radtour entlang der Straße erfahrbar.
Zweiter Stopp: Französische Straße
Dort wo die Französische Straße die Friedrichstraße kreuzt, beginnt derzeit noch deren autofreier Teil, mit dem die Berliner Grünen ihrer Vision ein Denkmal setzen wollten: die „Flaniermeile Friedrichstraße“. Mit der Einführung eines Verkehrsversuches wurde hier seit August die Straßenverkehrsordnung ausgesetzt. Nach siebzehn Monaten, zum 1. November 2021, lief die rechtmäßige Einschränkung der Verkehrsführung aus. Doch auch danach konnten dort keine Autos fahren.
Der Senat argumentierte, dass es „im Sinne der städtebaulichen Entwicklung notwendig sei, den Autoverkehr auf der Straße weiterhin einzuschränken“. Das sagt Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte und ehemaliger Richter am Berliner Landgericht. Buermeyer bezeichnet die Historie der rechtlichen Schritte, die von den Befürworter:innen und Gegner:innen der Friedrichstraße in den letzten Jahren eingeleitet worden sind, als „juristisches Potpourri“.
Besonders schön findet Herr Müller die Straße gerade nicht. Der ältere Herr, der seinen Vornamen nicht nennen möchte, sitzt zeitungslesend in einem Baststuhl auf der Friedrichstraße vor einer Filiale einer bekannten Berliner Kaffeehauskette. Von seinem Platz aus kann man noch die Klavierlaute von RadioLukas vernehmen, aber man spürt auch den Wind, der durch die schnurgerade Straße pfeift.
Die Menschen sollten „mehr Platz zum Schlendern haben, ohne der Gefährdung von Radfahrern ausgesetzt zu sein, die hier durch die Straße heizen“, kritisiert Müller den Verkehrsversuch. Zwar ist die Zahl der Unfälle auf der Straße nach einem Bericht des Senats seit der Sperrung für den Autoverkehr gesunken, an der subjektiven Wahrnehmung von Passant:innen, die regelmäßig mit den Radfahrenden in Konflikt gelangen, ändert das aber nichts.
Anja Schröder, Besitzerin eines Weingeschäfts in der benachbarten Charlottenstraße
Verkehrssenatorin Bettina Jarasch hat einen Plan entworfen, wie dieser Konflikt aufgelöst werden könnte. Und die Umsetzung hat schon begonnen. Während die Friedrichstraße die letzten Tage ohne Autoverkehr erlebt, werden auf einer Parallelstraße schon grüne Markierungen gesetzt. Um die Friedrichstraße dauerhaft in eine Fußgängerzone umzuwandeln, wird nun die Charlottenstraße zur Fahrradstraße umgebaut.
Doch um den ganzen großen Plan umsetzen zu können, bedarf es eines sogenannten Teileinziehungsverfahrens. Dieser juristische Schritt macht aus der zeitlich begrenzten Sperrung der Friedrichstraße eine langfristig rechtlich gültige Fußgängerzone, erklärt Jurist Buermeyer. Der ursprüngliche Plan des Senats war es, dieses Teileinziehungsverfahren durchzubringen, noch bevor der Verkehrsversuch im November 2021 auslief.
Dieses Datum wurde nicht eingehalten, aber die Straße blieb weiterhin „im Sinne der städtischen Entwicklung“ gesperrt – bis das Urteil des Verwaltungsgerichts dieses Vorgehen für rechtswidrig erklärte. Bis nun die geplante Einrichtung einer Fußgängerzone juristisch korrekt umgesetzt werden kann, können nach Einschätzung der grünen Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Mitte, Stefanie Remlinger, allerdings noch Jahre vergehen.
Umweg: Charlottenstraße
An der Charlottenstraße, dort wo gerade die grünen Fahrradmarkierungen gesetzt werden, befindet sich das Weingeschäft von Anja Schröder, die Besucher:innen zu einer „vinophilen Begegnung“ im Innen- und Außenbereich des Ladens einlädt. Der Frau, also, die den Prozess gewonnen hat, weswegen demnächst wieder Autos durch die Friedrichstraße fahren dürfen.
Schröder verweist auf den Lieferverkehr, der sich an der Straßenecke staut. Sie bemängelt, dass der Senat seinen Verkehrsversuch nicht ausreichend geplant habe. „Es muss doch auch mit einbezogen werden, welche Auswirkung die Sperrung der Friedrichstraße auf die direkte Umgebung hat, auf die sich das ganze Verkehrsaufkommen nun verlagert hat“, sagt Schröder.
Das Berliner Verwaltungsgericht sah das ähnlich: Aktuell läge den Richter:innen kein Plan vor, der die Auswirkungen der Sperrung stadt- und verkehrsplanerisch ausreichend abwöge.
Verkehrssenatorin Bettina Jarasch möchte mit ihrem neuen Plan nun sowohl die Friedrichstraße als auch die Charlottenstraße für den Autoverkehr sperren. Schröder findet auch das nicht richtig: „Auf der Friedrichstraße mussten seit der Verkehrsberuhigung rund 20 Läden schließen. Das ist doch kein Zustand.“
Zurück auf der Friedrichstraße unterbricht Jennifer Beutler, nicht weit von dem zeitunglesenden Herrn Müller entfernt, ihre Schicht in einem Café. Sie bezweifelt, dass der Zusammenhang zwischen Ladenschließungen und Verkehrsversuch so einfach gezogen werden kann. Wenn man über die Gründe der Geschäftsschließungen reden will, müsse man auch einbeziehen, dass nicht nur die Coronapandemie, sondern auch der Onlinehandel und der Bau eines nahen Einkaufszentrums zu mehr Konkurrenz geführt hätten. Beutler meint, dass die typischen Zielgruppen der Friedrichstraße von der Verkehrsberuhigung profitieren würden: „Die Tourist:innen, die Büroangestellten, die Einkaufenden, die kommen nicht mit dem Auto hierher.“
Eine Studie, die zwei Berliner Einkaufsstraßen untersucht hat, gibt Beutler recht: Rund 93 Prozent der Einkaufenden waren dort mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs.
Anna Baatz, Sprecherin des Volksentscheids „Berlin Autofrei“
Auf einer der Sitzgelegenheiten, die aufgestellt wurden, um Passant:innen zum Verweilen einzuladen, hat die Senatsverwaltung eine Botschaft hinterlassen: „Volle Straßen ohne Autos“. Eine belebte Straße war es, was sich der Senat für die künftige Friedrichstraße gewünscht hat. Direkt daneben wurde ein Graffiti gesprüht. „Selbstbestimmung“ steht da. Doch was Selbstbestimmung im Kontext einer verkehrsberuhigten Straße bedeutet, bleibt ein umstrittenes Thema.
Für FDP-Chef Christian Lindner etwa ist der Autoverkehr Ausdruck von Selbstbestimmung, „zu jeder Zeit an jeden Ort zu gelangen“. Allerdings besitzen in Deutschland gut 50 Prozent der Haushalte mit einem sehr niedrigen ökonomischen Status gar kein Auto. Und in Berlin mit seinem gut ausgebautem Nahverkehr dürften es eher noch mehr sein.
Auf halbem Weg zwischen dem Anfang und dem Ende des verkehrsberuhigten Bereichs der Friedrichstraße weisen zwölf Tafeln und einige Litfaßsäulen auf die soziale Relevanz dieses Projekts hin. Dort wirbt der Senat damit, er würde im Zuge der Berliner Verkehrswende, und so auch auf der Friedrichstraße, „Politik für die oberen 74 Prozent machen“, denn Berliner:innen würden knapp drei Viertel ihrer Wege zu Fuß, auf dem Rad oder in Bus und Bahn zurücklegen.
Nicht weit von der Litfaßsäule entfernt befindet sich ein gläserner Ausstellungsraum in Gewächshaus-Optik. Hier wirbt das nahe Museum für Kommunikation. Dietrich Fenner, der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des Museums, ist nach eigenem Bekunden sehr froh, den Showcase vom Bezirksamt bis Ende Dezember „bürokratiearm“ zur Verfügung gestellt bekommen zu haben.
Doch nun werden die Mitarbeiter:innen des Museums ihren Glaskasten schon früher räumen. Noch knapp zwei Wochen, dann müssen „sämtliche Sitzgelegenheiten, Bepflanzungen und Stadtmöbel, soweit diese dem Autoverkehr entgegenstehen, sowie der doppelte Fahrradstreifen von der Straßenfläche in der Friedrichstraße entfernt“ werden, teilt die Berliner Verkehrsinformationszentrale mit. Zeitgleich werde man sich nun aber auf die „sorgfältige Planung“ der dauerhaften Umwidmung der Straßennutzung in eine „Flaniermeile“ auf der Friedrichstraße und einen Fahrradweg auf der Charlottenstraße konzentrieren, heißt es.
Ende: Ecke Leipziger/Friedrichstraße
Dort wo die Leipziger Straße die Friedrichstraße kreuzt, endet das bisherige fünfhundert Meter lange Verkehrsprojekt optisch genauso unspektakulär wie an dessen Beginn: Ein paar Absperrungen, ein paar Schilder.
„Autofreie Zonen wie die Friedrichstraße sind gute erste Schritte“, findet Anna Baatz, Sprecherin des Volksentscheids „Berlin Autofrei“. Sie kritisiert aber auch den kleinen Wirkungsgrad des Verkehrsversuches: „Eine wirkliche Veränderung im Mobilitätsverhalten der Menschen wird nicht über 500 Meter Flaniermeile erzielt werden.“
Für eine Taxifahrerin, die einige Meter weiter südlich vor dem Mauermuseum am Checkpoint Charlie auf Kund:innenschaft wartet, wäre eine autofreie Stadt dagegen „der absolute Horror“. Ihr Geschäft leide wegen der Teilsperrung der Friedrichstraße bereits jetzt unter massiven Einbußen.
Ein Essenslieferant biegt auf der gegenüberliegenden Seite ein und kollidiert fast mit einer älteren Dame, die mit dem Blick nach oben gerichtet ein Plakat bestaunt. Der Kurierfahrer kann die Abneigung der Taxifahrerin nachvollziehen. Aber eine autofreie Stadt müsse ja nicht in einem „Extrembeispiel wie der Friedrichstraße enden, wo kein Taxi und kein Krankenwagen mehr durchkommt“, findet er.
Er wünscht sich ein durchdachtes Konzept, „was all diese Abwägungen trifft und so auch alle Menschen mitnehmen kann“. Der Essenslieferant hievt seinen Rucksack wieder auf den Rücken und wirft noch schnell ein, dass das Ausliefern „überschaubarer Mengen per Fahrrad viel schneller, gesünder und emissionsfrei“ ist. Dann bahnt er sich durch das Gewusel an Menschen, Fahrrädern und Autos an der Kreuzung zur Kochstraße seinen Weg.
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