Studie zu Atomstrom: Atom-Ära geht allmählich zu Ende
Der Anteil der Nuklearenergie weltweit sinkt weiter. Während Deutsche wegen maroder AKWs in Frankreich bangen, setzt China stärker auf Erneuerbare.
Die Zahlen stammen aus dem am Mittwochnachmittag in Berlin vorgestellten World Nuclear Industry Status Report 2022 (WNISR). Herausgeber ist der renommierte Atomenergieberater Mycle Schneider, der den Report jährlich mit einem internationalen Team verfasst.
Es zeigt einmal mehr den Bedeutungsverlust des Nuklearstroms. Dieser ergibt sich aus zwei Trends: Einerseits stagniert die atomare Erzeugung, andererseits steigt die weltweite Gesamtstromerzeugung an. Mit 2.653 Milliarden Kilowattstunden (Terawattstunden, TWh) lag die absolute Erzeugung im Jahr 2021 weiterhin knapp unter dem historischen Höchstwert von 2006. Dabei kompensiert der Zubau an Reaktoren in China etwa den Rückgang der Atomstromerzeugung im Rest der Welt. Nach wie vor wird die Atomkraft von fünf Ländern dominiert, die 71 Prozent des gesamten Atomstroms erzeugen. Es sind – in dieser Reihenfolge – die USA, China, Frankreich, Russland und Südkorea.
Die weltweite Stagnation zeigt sich auch an der Zahl der Reaktoren. Während im Jahr 2021 sechs Einheiten neu ans Netz gingen, drei davon in China, wurden weltweit acht Reaktoren abgeschaltet. Im Laufe des Jahres wurden zwei weitere Schließungen in Großbritannien angekündigt, aber die Reaktoren hatten seit 2018 ohnehin keinen Strom mehr erzeugt. Zur Mitte des Jahres 2022 waren weltweit 411 Reaktoren in 33 Ländern in Betrieb – 4 weniger als ein Jahr zuvor. Der Höchststand lag im Jahr 2002 bei 438 Blöcken.
Mehr Wind- als Atomstrom in China
Ein wenig weichen die Daten des WNISR immer von jenen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO ab, die aktuell 426 laufende Reaktoren ausweist. Die Differenz ergibt sich durch eine unterschiedliche Bewertung jener Reaktoren, die seit Jahren keinen Strom mehr erzeugen. Immerhin nähert sich die IAEO offenbar der Sichtweise des WNISR an, indem sie in den vergangenen Wochen 12 japanische Reaktoren in die Kategorie „Langzeitstillstand“ überführte, die bislang noch als „in Betrieb“ betrachtet wurden, obwohl sie zum Teil seit zehn Jahren keinen Strom mehr erzeugen.
Selbst in China, dem Land des größten Zubaus an Atomkraft, werden Windkraft und Photovoltaik, gemessen an der jährlichen Stromerzeugung, längst intensiver ausgebaut als die Nukleartechnik. Die Windstromerzeugung lag daher im Jahr 2021 in China schon deutlich über der Atomstromerzeugung, die Photovoltaik wird angesichts großer Wachstumsraten die chinesische Atomkraft in wenigen Jahren überflügeln. Weltweit gingen laut Report im vergangenen Jahr 69 Prozent der Kraftwerksinvestitionen in die Erneuerbaren, nur 8 Prozent in die Atomkraft, der Rest in Fossile.
Bei der Vorstellung betonte Herausgeber Schneider die Vorgänge in Frankreich, die auch für Deutschland von großer Bedeutung sind. Technische Probleme mit den alternden Reaktoren sorgen dafür, dass Deutschland derzeit per Saldo Strom nach Frankreich exportiert. In Frankreich wird die Atomstromerzeugung in der Jahressumme 2022 gegenüber dem Vorjahr um 60 bis 80 TWh einbrechen.
Der französische Winter hat damit für Deutschland eine enorme Bedeutung. Da Frankreich in großem Stil über schlichte Stromheizungen verfügt – „Typ Toaster“, wie Schneider sagte –, steigt mit jedem Grad, um das es in Frankreich kälter wird, der Stromverbrauch im Land um 2,4 Gigawatt an. Mit jedem Grad werden also etwa zwei Atomkraftwerke zusätzlich benötigt.
Ein weiteres Schwerpunktthema des Reports ist diesmal die Abhängigkeit von russischem Uran und vor allem den russischen Brennelementen. In der Europäischen Union gibt es noch 15 Reaktoren vom russischen Typ WWER, in der Slowakei, Bulgarien, Tschechien, Finnland und Ungarn. Diese benötigen entsprechend spezielle Brennelemente. Nun werden diese zwar inzwischen auch von der amerikanischen Firma Westinghouse produziert, aber deren Kapazitäten reichen nicht aus, um alle europäischen Reaktoren zu versorgen.
204 Reaktoren weltweit stillgelegt
Russland vergrößert unterdessen seinen globale Einflussbereich noch, indem das Land seine Reaktortypen weltweit verkauft, etwa im arabischen Raum. Das ist der Unterschied zu China, das sein Modell nur im eigenen Land aufbaut.
Ein weiterer Schwerpunkt im diesjährigen Report ist der Rückbau. Laut WNISR sind aktuell 204 Reaktoren weltweit stillgelegt. Die durchschnittliche Dauer des Rückbaus liege bei 21 Jahren, schwanke aber stark – zwischen 6 Jahren für einen kleinen Reaktor (Elk River in den USA) und 45 Jahren (Humboldt Bay, ebenfalls USA). Allerdings hätten erst 3 der 23 Länder, die bereits Reaktoren stillgelegt haben, für mindestens einen ihrer Reaktoren den technischen Stilllegungsprozess schon abgeschlossen: die Vereinigten Staaten (17 Einheiten), Deutschland (4) und Japan (1).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Nach Hinrichtung von Jamshid Sharmahd
„Warum haben wir abgewartet, bis mein Vater tot ist?“
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“