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Rezepte bei TiktokBlätterteigtasche für 1,50 Euro

Jennifer Kuschels Rezeptevideos auf Tiktok sind Kult. Sie selbst kam als Influencerin zu Geld. Ihre Videos macht Kuschel immer noch für Leute ohne.

Influencerin Jennifer Kuschel in ihrer Küche, wo sie die Videos dreht Foto: Hannah Grünewald

Jennifer Kuschel ist nicht oft allein. Die 33-Jährige hat drei Kinder, um die sie sich kümmert, und auf Social Media schauen ihr Hunderttausende beim Kochen zu, kennen ihre türkis-pinke Küche ihrer Dreizimmerwohnung und ihre „Broke Gerichte“– Gerichte, die man sich selbst dann leisten kann, wenn man broke ist, also pleite.

Mit ihrem Profil „FoodAndFamily“ erreicht Kuschel vor allem die, die in Zeiten von steigenden Preisen nach günstigen Rezeptideen suchen. Spinat-Blätterteigtaschen für 1,50 Euro, Nudeln mit Sahnesoße für 2 Euro. „Keines meiner Rezepte soll teurer als 5 Euro sein“, sagt Jennifer Kuschel. Die extrem günstigen Gerichte sind besonders beliebt bei ihren Followern. Das Reel mit den meisten Likes ist ein Gericht für 1,79 Euro: Camembert im Blätterteig.

Im kurzen Video sieht man, wie Kuschels Hand Dosen in einen Pfandautomaten legt. „Wir sind mal wieder broke“, hört man aus dem Off. Der Bon zeigt 2,25 €. Schnitt. Sie greift ins Kühlregal, kauft Blätterteig für 79 Cent und Camembert für 99 Cent. Schnitt. Kuschel ist in ihrer Küche, rollt den Blätterteig aus, legt den Käse in die Mitte und schneidet ihn so ein, dass der Blätterteig wie eine Blume um den Camembert rollt. Schnitt. Kuschel holt den Camembert aus dem Ofen und tunkt den Blätterteig in den flüssigen Käse. Dazu spricht Kuschel in ihrer leisen, angenehmen Stimme: „Das schmeckt mega lecker.“

Das Vergleichen von Preisen im Supermarkt, das Sparen an Lebensmitteln ist für viele Menschen nicht neu. Für einige Menschen, die Kuschel jetzt folgen, ist dieser Zustand gerade erst Realität geworden. Laut Statistischem Bundesamt sind die Lebensmittelpreise im Vergleich zu Vorjahresmonat rapide gestiegen. Ein Rekordwert seit Beginn der Erhebung im Jahr 1949. Die Tafeln gehen bundesweit von deutlich mehr als zwei Millionen Kun­d:in­nen aus und können den Bedarf kaum stemmen. Im öffentlichen Diskurs zum Sparen ist immer öfter auch von der „Mittelschicht“ die Rede.

Keines meiner Rezepte soll teurer als 5 Euro sein

Jennifer Kuschel

Es klingt zynisch, aber je mehr Menschen an der Supermarktkasse schlucken müssen, desto mehr Follower gewinnt Kuschels Account hinzu. Wie geht es ihr dabei? „Die Situation unterstützt das, was ich mache“, sagt Kuschel, „auch wenn es traurig für die anderen ist.“ Durch ihre „broke Gerichte“ versuche sie, anderen zu helfen, sagt sie, indem sie ihnen zeige, dass Sparen möglich ist, gerade beim Essen.

Kuschel merkt, dass mit der steigenden Inflationsrate auch die Anerkennung für ihre Sparmaßnahmen wächst. „Vor einem Jahr haben sich noch viele lustig gemacht, jetzt müssen alle beim Einkaufen sparen“, sagt Kuschel.

Kuschel ist eine von wenigen Spar-Influencer:innen in Deutschland, die sich hauptsächlich auf Lebensmittel­einkäufe und Rezepte konzentrieren. Doch je mehr Menschen sparen müssen, desto mehr Inhalte über das Sparen gibt es auch bei Tiktok und Instagram. Immer mehr Crea­to­r:in­nen zeigen ihre Wocheneinkaufsbudgets: Was bekomme ich für 20 Euro bei Aldi? Andere machen Kochbattles: Wer kocht das beste Gericht für 10 Euro? Dabei geht es oft um vereinzelte Spar­inhalte. Außer Kuschel hat bisher keiner in Deutschland seinen ganzen gesamten Kanal auf günstiges Kochen ausgerichtet – zumindest nicht bei Tiktok und Instagram.

Kuschels „Broke Rezepte“ sind ihr Alleinstellungsmerkmal. Die Inhalte kommen an, weil die 33-Jährige weiß, wovon sie spricht. Ihre Gerichte sind nicht nur ausgedachte Sparideen, sie waren lange ihre eigene Überlebensstrategie. Mit 8 Jahren kommt Jennifer Kuschel zu einer Pflegefamilie. Von ihr habe sie gelernt, wie man ein strukturiertes Leben führe, sagt Kuschel. Was Hygiene ist, wie man Hausaufgaben mache. Da die Familie mehrere Pflegekinder betreut und nur ein enges Budget hat, habe sie den Kühlschrank nicht öffnen dürfen, um sich was zum Essen rauszuholen, erzählt sie.

Später, zum Zeitpunkt ihres Studiums, leben Kuschel und ihr damaliger Partner ausschließlich von ihrem Schulbafög und dem Kindergeld. Das waren etwa 750 Euro, davon gingen 360 Euro für die Wohnung ab. Es bleibt nicht viel für Lebensmittel übrig. Manchmal nur 20 Euro für eine Woche. In dieser Zeit entstehen viele ihrer „Broke Rezepte“. Ihre damalige Zutat für so fast alles, was sie kocht: Instantnudeln. Daraus macht sie Suppen, Aufläufe. Die Instantnudeln in der bunten Plastikverpackung kosteten damals etwa 30 Cent, erinnert sich Kuschel. Aber auch die Instantnudeln sind heute teurer, eine Packung kostet mittlerweile 59 Cent.

Dass sie, wegen steigender Preise, selbst immer weniger Lebensmittel findet, mit denen sie ihre Rezepte zubereiten kann, wird auch für Jennifer Kuschel zunehmend zu einem Problem. Auch wenn sie selbst nicht mehr auf die allergünstigsten Lebensmittel angewiesen ist, wie sie sagt. „Bei mir geht’s mittlerweile mit dem Geld. Aber wenn ich sehe, dass fast jede Woche alles teurer wird, denke ich an die, die sich das nicht leisten können.“ Dass sich Jennifer Kuschel mehr leisten kann, liegt an ihrer Tätigkeit als Content Creatorin. Seit 2021 ist Kuschel selbständig. Sie macht Werbung auf Tiktok und Instagram, verdient Geld durch geschaltete Werbung bei Youtube. Diese Werbekooperationen sind mittlerweile Kuschels Haupteinnahmequelle. Zudem bekommt sie einen Gründungszuschuss für die ersten zwei Jahre ihrer Selbstständigkeit. In Zukunft will sie Merchandise-Produkte wie Schürzen und Rezeptkarten verkaufen.

Trotz der Einnahmen verfolgt Kuschel einen rigiden Plan: Nicht mehr Geld ausgeben, als sie es ohne ihre Social-Media-Einnahmen tun würde. Das heißt konkret: Nur so viel Geld ausgeben, wie sie es als Arbeitslose zur Verfügung haben würde. Ihre Rechnung ergibt, dass sie nicht mehr als 300 Euro für Lebensmittel ausgeben darf. Sie sei daran gewöhnt, so wenig Geld auszugeben. Alles, was sie mehr verdient, wird gespart. Für einen Urlaub an der Ostsee, für ein Tablet für ihre Tochter. Wie viel sie durch ihre Arbeit als Content Creatorin verdiene, wisse sie noch nicht genau, sagt Kuschel. Ihre finanzielle Sicherheit habe sich durch die Arbeit in den sozialen Medien aber deutlich verbessert.

Tiktokerin zu werden, noch dazu eine, die damit ihr Geld verdient, war kein Lebensziel, kein Punkt im Lebensplan von Jennifer Kuschel. Aber abwegig war der Weg dahin auch nicht. Als sie sich Ende 2019, schwanger mit ihrem dritten Kind, von ihrem Partner trennt, ist Kuschel emotional angeschlagen. „Ich war in einem tiefen Loch“, sagt sie. Sie beginnt eine Therapie. Ihr ist das wichtig, dass ihre Follower das wissen. Man müsse viel offener über solche Dinge sprechen, sagt sie.

Tiktok wird für Kuschel in der Zeit der Neuorientierung eine gute Ablenkung. 2020, als die Pandemie beginnt, macht sie einen Onlinekurs in Social Media- und Tiktok-Marketing. Trotz persönlicher Krise will Kuschel nicht nichts tun: „Ich kann nicht so richtig stillsitzen“, sagt Kuschel „selbst, wenn es mir nicht gut geht.“ Hört man Kuschel zu, schwingt immer eine Portion Ärmelhochkrempeln, eine Prise inspirierende Zitate und ihr unbedingter Wunsch nach Eigenverantwortung mit.

Kuschels Account bekommt immer mehr Zulauf, vor allem von Studierenden, kleinen Familien, Alleinerziehenden. Aber nicht alle feiern Kuschels Inhalte. Immer wieder bekommt sie Kritik zu ihren Rezepten. Sie seien ungesund, schlecht für ihre Kinder. Ein Follower habe sogar gedroht, das Jugendamt einzuschalten, weil Jennifer Kuschel ihren Kindern zu wenig Obst und Gemüse geben würde. „Die Menschen wissen nicht, dass manche Menschen wirklich so leben müssen“, sagt sie.

Wachsende Followerzahlen, mediales Interesse – Kuschel kommt bei dem Tempo gedanklich kaum noch hinterher: „Letztens sagte mir eine befreundete Influencerin: ‚Ihr gehört jetzt zu den Großen‘. Aber so ganz begriffen, was das bedeutet, habe ich noch nicht.“ Wie auch. Jennifer Kuschels Leben befand sich die letzten 33 Jahre im Überlebensmodus, unterhalb der Armutsgrenze.

Heute bezeichnet sie sich nicht mehr als „broke“, sagt Jennifer Kuschel. Armut sei für sie, wirklich pleite zu sein, nicht mehr zu wissen, ob man morgen noch ein Dach über dem Kopf habe, Angst zu haben, kein Essen mehr kaufen zu können.

So, wie das schon oft in ihrem Leben war. Aber, fügt sie vermittelnd hinzu, Armut sei für jeden anders, es sei immer davon abhängig, was man gewöhnt sei. „Für mich ist Armut, wenn du deinen Lebensstandard verlierst“, sagt Jennifer Kuschel.

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3 Kommentare

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  • PS



    Es gibt heute gute Konzepte, mit denen man Armut "hip" machen kann: Minimalismus, Frugalismus.



    So muss man sich nicht schämen, sondern kann sich an einen niedrigen Lebensstand gewöhnen, bei dem man trotzdem noch das Leben genießen kann.

  • Hm, ich habe als Kind auch nicht einfach so den Kühlschrank öffnen dürfen. Also, es war nicht verboten, aber es wurde einfach nicht außerhalb der Mahlzeiten gegessen. Mit 12 Jahren habe ich mir zum ersten Mal alleine Süßigkeiten gekauft. Ansonsten wurde abends eine Tafel Marzipanschokolade geteilt und die Stücke vorher auf eine Pralinenschale aus Glas gelegt.



    Ich habe das nie als Mangel angesehen. Wenn man von der Schule nach Hause kam, fragte man, ob man sich ein Brot oder eine TK-Pizza machen durfte oder es gab reguläres Mittag- oder Abendessen. Bananen und Äpfel sowie Mineralwasser hätte man sich jederzeit aus der Küche holen dürfen. Man bekam ein ausreichendes Schulbrot mit. Hunger gab es nicht.



    Insofern finde ich die Aussage, die Kinder durften nicht an den Kühlschrank, weil das Geld sonst nicht gereicht hätte, etwas seltsam, denn das dürfte doch bei den meisten Familien so sein. Unabhängig vom Geld: Dass Kinder sich nicht einfach aus dem Kühlschrank oder Vorratsschrank bedienen, sondern vorher fragen und vornehmlich zu den Mahlzeiten etwas essen, oder?



    Unabhängig davon: Ein Haushaltsplan, Wochenplan, Einkaufszettel und bewusste Resteverwertung sind wertvolle Hilfsmittel, die jeder in seiner Jugend kennenlernen sollte, bevor er das erste Mal alleine lebt!

  • "Armut sei für sie, wirklich pleite zu sein, nicht mehr zu wissen, ob man morgen noch ein Dach über dem Kopf habe, Angst zu haben, kein Essen mehr kaufen zu können."

    Gute Definition von "absoluter Armut".

    "Armut sei für jeden anders, es sei immer davon abhängig, was man gewöhnt sei. „Für mich ist Armut, wenn du deinen Lebensstandard verlierst“, sagt Jennifer Kuschel."

    Gute Definition von "relativer Armut". Va. diese wächst aktuell stark an.

    Ich wünsche Frau Kuschel viel Erfolg und gratuliere ihr zu ihrem gesellschaftlich verdammt wichtigen Job, den sie hoffentlich auch bei mehr Erfolg weiter so engagiert angeht.