: Dem Eisbrecher bricht das Eis weg
Seit 1982 sammelt die „Polarstern“ Daten über die kältesten Regionen der Welt. Ihre Fahrten liefern wichtige Erkenntnisse über die globale Erwärmung. Bald geht das Forschungsschiff in Rente
Aus Bremerhaven Teresa Wolny
Ayla Murray und Meret Jucker erforschen weitgehend unbekannte Tiere. Ihre Verbreitung: unbekannt. Wie sie auf das wärmer werdende Wasser in der Arktis reagieren: unbekannt. Wie alt die Tiere werden und wo sie sich fortpflanzen: unbekannt. „Es ist einfach irre, wie wenig wir wissen“, sagt Murray. Murray und Jucker sind Doktorandinnen am Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Von Ende Juni bis Mitte August waren die beiden Wissenschaftlerinnen an Bord der „Polarstern“, um Daten über Jellys zu erheben.
Jellys sind Weichtiere ohne Exoskelett, die wie Krill zum Zooplankton gehören. Das bekannteste Beispiel sind Quallen. Die Tiere seien nicht nur in der Fischerei, sondern auch in der Forschung lange sehr unbeliebt gewesen, erzählt Murray. Ihr Glibber verstopft Netze und die Wasserzuleitungen von Schiffen, oder sie vermehren sich an bestimmten Orten in rasender Geschwindigkeit. In einem norwegischen Fjord führte eine solche Quallenblüte dazu, dass es dort seit Jahrzehnten keine Fische mehr gibt.
In der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen nahmen Murray und Jucker Wasserproben, fingen die Tiere in speziellen Netzen und fotografierten sie mit Unterwasserkameras. „Die Hypothese ist, dass sich die Artenzusammensetzung mit dem wärmeren Wasser verändert“, erklärt Jucker. Bisher sei noch völlig unbekannt, wie sich das Verschwinden des arktischen Meereises auf die Tiere auswirke.
In der Arktis sind die Folgen der Erderhitzung besonders drastisch: In den letzten 40 Jahren ist die Ausdehnung des Meereises dort im Sommer um 40 Prozent zurückgegangen. Bei der letzten Arktisfahrt untersuchten Forschende auf der „Polarstern“ die in der Eisrandzone zerfallenen Eisschollen. Auch die Schmelzteiche auf dem Meereis wurden genauer erforscht. Neben den Quallen gab es Projekte, die sich mit anderem Plankton oder mit der Nährstoffversorgung im Wasser beschäftigten. Insgesamt waren zehn verschiedene Forschungsprojekte an Bord.
Vor zwei Jahren endete auf der „Polarstern“ mit MOSAiC außerdem die bisher größte Arktisexpedition. Von September 2019 bis Oktober 2020 war das Schiff unterwegs, um Daten über das globale Klimasystem zu sammeln. Bis auf 156 Kilometer kam sie dabei an den Nordpol heran – so nah wie noch nie ein anderes Schiff zuvor. Anfang diesen Jahres machte die „Polarstern“ erneut Schlagzeilen, als AWI-Wissenschaftler:innen in der Antarktis das größte bisher bekannte Fischbrutgebiet entdeckten. Geschätzte 60 Millionen Eisfische nisteten zum Zeitpunkt der Untersuchungen im Weddelmeer.
Der Forschungseisbrecher mit seinen neun wissenschaftlichen Laboren, in denen auch Ayla Murray und Meret Jucker ihre Jellys aus den Wasserproben herausgefischt haben, ist etwa 310 Tage im Jahr unterwegs. Nur ein paar Tage lag die „Polarstern“ diesen August in Bremerhaven, ihrem Heimathafen. Aktuell ist sie im Atlantik in Richtung Kapstadt unterwegs. Auf dem Weg nach Süden werden an Bord unter anderem Strömungen und die Dichte von Wassermassen vermessen. Damit wollen die Forschenden herausfinden, ob und wie sich bestimmte Gewässer erwärmt haben.
Seit 1982 ist die „Polarstern“ in den Polregionen der Erde unterwegs, 1,8 Millionen Seemeilen – eine Seemeile entspricht 1.852 Meter – hat sie laut AWI seitdem zurückgelegt, das entspricht 82 Erdumrundungen am Äquator. 2008 umrundete sie als weltweit erstes Forschungsschiff den Nordpol. Neben der Forschung versorgt das Schiff auch die deutschen Forschungsstationen in der Antarktis, Neumayer III und Kohnen.
Das aktuelle Projekt, das die „Polarstern“ in die Südhalbkugel führt, heißt NOSOAT (kurz für „North South Atlantic Training“. „Diese Strecke ist sehr wichtig, weil wir durch fast alle Klimazonen der Erde fahren“, erklärt Karen Wiltshire, stellvertretende Direktorin am AWI und Expeditionsleiterin der Fahrt. Durch regelmäßige Messungen an den immer gleichen Stellen im Ozean erhalten die Forschenden Langzeitdaten, die fundamental für die Modellierungen von Klimaszenarien sind. „Wir müssen immer noch besser verstehen, wie es um den Ozean steht“, sagt Wiltshire, die selbst Umweltwissenschaftlerin ist.
Eine Besonderheit auf dieser Fahrt: Die Messungen werden von jungen internationalen Wissenschaftler:innen durchgeführt, die auf dem Schiff eine Art schwimmende Sommerschule absolvieren. Das Ganze ist Teil der von den Vereinten Nationen ausgerufenen „Ozean-Dekade“, die bis 2030 Lösungen für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Weltmeere unterstützt. Unter anderem soll ihre natürliche CO2-Speicherfähigkeit verbessert und ihre Vermüllung gestoppt werden. Die UN setzt dabei auf „disziplin- und länderübergreifende“ Forschung – wie auf der „Polarstern“.
„Es ist extrem wichtig, dass wir weltweit Meeresexpert:innen haben und zwar nicht nur in den reichen Ländern“, betont Wiltshire, die zu den Gründungsmitgliedern der „Scientists for Future“ in Deutschland gehört. Die 14 Doktorand:innen lernen auf dem Forschungsschiff zum Beispiel, die energetischen Zustände von Wassermassen zu messen und zu berechnen, Modellierungen zu erstellen und – ganz allgemein – auf einem Schiff zu forschen: „In fünf oder sechs Kilometern Tiefe Wasser ziehen und daraus Rückschlüsse zu dessen Zustand zu ziehen, kann man nicht einfach theoretisch, das muss man mal gemacht haben“, sagt Wiltshire.
Karen Wiltshire, Expeditionsleiterin
Besonderen Wert habe dabei die interdisziplinäre Ausrichtung des Trainings. „Das Meer ist nie nur Wasser, nur Chemie oder nur eine bestimmte Oberfläche, sondern ein riesiges Ökosystem.“ Häufig seien Forschende Wiltshire zufolge zwar exzellent in ihren jeweiligen Disziplinen, „zu anderen Fachrichtungen machen sie dann aber Annahmen, die eher theoretisch sind und nicht gut verstanden werden“.
Die Umweltwissenschaftlerin möchte daher den Dialog zwischen den Fächern fördern, die auf der „Polarstern“ vertreten sind. Das soll passieren, indem Physiker:innen zum Beispiel mikroskopieren und auch Biolog:innen sich mit Modellierungen auseinandersetzen. „Meine Erfahrung ist, dass die meisten Menschen das sehr gut können“, sagt Wiltshire.
49 Wissenschaftler:innen passen auf das Forschungsschiff. Daneben gibt es auf jeder Fahrt eine rund 44-köpfige Crew und manchmal auch Pilot:innen, je nachdem, ob unterwegs Hubschraubereinsätze geplant sind. Nach der Fahrt nach Kapstadt geht es für den Rest des Jahres wieder in die Antarktis und erst im April wieder in den Heimathafen in Bremerhaven.
Allzu häufig wird der Eisbrecher wohl nicht mehr auslaufen. 2027 soll die „Polarstern“ in Rente gehen und, so der Plan, nahtlos von der „Polarstern II“ abgelöst werden. Auch dieses Riesenprojekt soll im Zeichen der UN-Ozean-Dekade stehen, die Mittel für den Neubau wurden Anfang des Jahres vom Bundestag genehmigt. Derzeit läuft das Vergabeverfahren.
Laut Antje Boetius, Direktorin des AWI, soll auch die neue „Polarstern“ Erkenntnisse aus den Polarregionen liefern, „die unsere Gesellschaft dringend benötigt, um die richtigen Entscheidungen zu Klima-, Umwelt- und Naturschutz zu treffen“. Dafür soll neben klimafreundlicher Technik auch ein sogenannter Moonpool eingebaut werden. Durch eine Öffnung im Rumpf können die Tauchroboter der Zukunft auch unter das schmelzende Eis von Arktis und Antarktis tauchen. Auch von der „Polarstern II“ sind spektakuläre Forschungsergebnisse zu erwarten.
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