Rechtswidrige Abschiebepraxis: Rechte hat auch, wer geduldet ist
Ein Urteil des Landgerichts Verden stärkt die Asylsuchenden: Bei gültiger Duldung darf der Geflüchtete nicht einfach schnell abgeschoben werden.
Muzaffer Öztürkyilmaz, Flüchtlingsrat Niedersachsen
Im konkreten Fall geht es um einen Ivorer, der 2017 nach Deutschland kam. Sein Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgewiesen – mit der Begründung, dass laut den Regeln des Dublin-III-Abkommens Italien für ihn zuständig sei. Also sollte er abgeschoben werden.
2018 und 2019 scheiterten Abschiebungen, weil der Mann gar nicht zuhause war – den Behörden sagte er anschließend, er sei aus Angst vor der Polizei nachts oft nicht in seiner Wohnung gewesen. Danach erhielt er zunächst fortlaufende Duldungen von maximal drei Monaten, ehe er im September 2022 erneut abgeschoben werden sollte.
Mittlerweile hatte der Mann einen Job, eine Wohnung gemietet und seine Lebensgefährtin nach islamischem Recht geheiratet. Als die Polizei dann kam, um ihn abzuholen, krallte er sich am Türrahmen fest, seine Frau ließ ihn nicht los. Also wurde er festgenommen und noch am selben Tag wegen „Fluchtgefahr“ in Abschiebehaft genommen.
„Fluchtgefahr“ bestand nicht
Doch diese Haft war rechtswidrig, urteilte das Landgericht Verden, das die sofortige Haftentlassung anordnete. Begründung: Am Tag der versuchten Abschiebung war die Duldung weder erloschen noch widerrufen. Zwar schrieb die Ausländerbehörde: „Die Duldung erlischt mit der Ausreise“ – eine Abschiebung sei aber eben keine Ausreise, urteilten die Richter:innen.
Eine Abschiebung hätte also nicht erfolgen dürfen, eine Inhaftierung aber auch nicht – eine „Fluchtgefahr“ erkannte das Landgericht angesichts des Verhaltens des Betroffenen nicht an. Unter anderem hatte er selbst einen gültigen Reisepass vorgelegt, zudem habe er sich seiner Abschiebung nicht entzogen. Dem niedersächsischen Flüchtlingsrat gilt er als „gut integriert“.
Es gibt aber noch einen Grund, wieso das Vorgehen der Behörden rechtswidrig war: Der Ivorer wurde schon seit Mai 2019 – also mehr als drei Jahre – geduldet. Und wer länger als ein Jahr am Stück geduldet wurde, dem muss die Abschiebung einen Monat vorher angekündigt werden, stellt das Landgericht Verden klar. Denn die Geflüchteten müssen Zeit haben, noch Rechtsmittel einzulegen und ihre Angelegenheiten in Deutschland zu regeln. Erst wenn die Betroffenen dann zum angekündigten Termin nicht erscheinen, können sie auch in Abschiebehaft genommen werden.
„Das passiert nicht“, sagt Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat Niedersachsen zu der Pflicht der Behörden, schon länger Geduldeten ihre Abschiebung anzukündigen. „Bei den Abschiebungen läuft vieles nicht rechtsstaatlich ab.“ Er sieht die Entscheidung des Gerichts als „grundsätzlich positiv“ an, ebenso wie der Anwalt Sven Sommerfeldt, der sie für den Betroffenen erstritten hat und von einem „Grundsatzurteil“ spricht. „Das stärkt die Rechte der Betroffenen“, sagt Öztürkyilmaz: Allerdings fürchtet er, dass die Behörden dem Problem durch eine klarere Formulierung leicht abhelfen können: „Die Duldung erlischt mit dem Tage der Abschiebung.“
Beim Landkreis Verden ist das Gerichtsurteil „noch in der rechtlichen Prüfung“, sagt eine Sprecherin. Zugleich vertritt man die Auffassung, dass es sich um eine Entscheidung im Einzelfall handele, und nicht um eine grundsätzliche über die bisherige Praxis der Ausländerbehörden. „Vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer:innen“ könnten grundsätzlich „auch vor dem zeitlichen Ablauf der Duldung abgeschoben werden.“ Etwas anderes habe das Landgericht Verden auch nicht festgestellt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen