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Ukraine-Demo in BerlinAus der Ferne solidarisch

Tausende Menschen ziehen in ukrainische Flaggen gehüllt durch Berlin. Anlass ist der Unabhängigkeitstag – und der Kriegsbeginn vor sechs Monaten.

Solidarisches Miteinander auf der „Vitsche“-Demo zum ukrainischen Nationalfeiertag Foto: Max Leyendecker

Berlin taz | Menschen mit blau-gelben Fahnen um die Schultern und Wyschywanka-Mustern, ein traditionelles ukrainisches Stickmuster, auf ihren Oberteilen knien auf dem Breitscheidplatz in Charlottenburg. Sie schweigen. Sie schweigen “für die Ukraine, für Gefallene und für diejenigen, die das Land noch verteidigen“, wie eine Rednerin vorher ankündigte. Ein Mann klebt einen Sticker mit Putins Gesicht auf eine Laterne. Die Aufschrift: “I am russian. I am a killer.“

Dieser Mittwoch, 24. August, markiert ursprünglich den Unabhängigkeitstag der Ukraine. 1991 stimmten über 90 Prozent der Stimmberechtigten für eine unabhängige Ukraine. Gleichzeitig begann heute vor genau sechs Monaten, am 24. Februar der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Deshalb hat Vitsche, eine Organisation junger Ukrai­ne­r*in­nen in Berlin, die “Ukraine Freedom Parade“ organisiert. Mehrere tausend Menschen, größtenteils Menschen aus der Ukraine, sind gekommen.

Die Schweigeminute ist vorbei, der Demozug zieht los in Richtung Brandenburger Tor. Der Mann mit den Stickern verteilt weitere an die Demonstrierenden; jene kleben sie an Mauern, Straßenlaternen und Pfeiler entlang der Route.

Pronina Kateryna kommt ursprünglich aus Kyiv, inzwischen lebt sie in Berlin. Der 24. August fühle sich sehr zwiespältig an. “Es ist ein großer Feiertag in der Ukraine“, sagt sie. “Eigentlich feiern wir Freiheit und Unabhängigkeit. Jetzt müssen wir aber wieder dafür kämpfen.“ Und das aus der Ferne, an einem Tag, an dem es erneut einen Bombenalarm gab und mindestens 25 weitere Menschen in der ukrainischen Kleinstadt Tschaplyne durch einen russischen Angriff starben. “Free Mariupol, now!“, schallt es durch die Straße. Die Stadt am Asowschen Meer wird seit Mai vollständig von Russland kontrolliert.

Die Demonstration zieht in Richtung Nollendorfplatz. Eine Forderung unter vielen: ein schnelles Energie-Embargo. Die Stimmung ist sehr gemischt. Während die einen fast strahlend ihre Flaggen präsentieren, stehen andere Familien weinend am Straßenrand. Wiederum andere schreien Demoparolen auf Ukrainisch.

Ein großer Teil der Menschen hier sind Ukrai­ne­r*in­nen oder aus der Ukraine geflohen. Viele haben, wie sie im Gespräch erzählen, noch Verwandtschaft in belagerten Städten. “Es ist quasi unsere Pflicht, hier heute zu demonstrieren. Weil wir eben können!“, sagt eine ukrainische Demonstrantin. Sie ist kaum älter als 14 und gemeinsam mit ihrer Mutter auf der Demonstration.

Persönliche Begegnungen

Auch persönliche Geschichten spielen sich ab. Ansgar Snethlage und Crystina Nazarkewytsch sind seit 20 Jahren befreundet – haben sich aber 15 Jahre lang nicht gesehen. An diesem Abend haben sie sich auf der Demo wieder getroffen. Crystina Nazarkewytsch ist gerade zu Besuch. Nächste Woche fährt sie zurück nach Lwiw in der Ukraine. Die Stadt befindet sich nahe der polnischen Grenze. „Da sei die Situation nicht ganz so schlimm“, berichtet sie.

Kennengelernt hätten sie sich damals in einer Sprachschule, berichten beide: Er war freiwilliger Lehrer und sie Koordinatorin des Lehrprogramms in den Sommerschulen der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv. „Den Ukrai­ne­r*in­nen zeigen, dass wir hinter ihnen stehen“, findet Ansgar Snethlage wichtig. Es sei ein Privileg, hier mitlaufen zu können. Alle Demonstrierende verbindet etwas: Viele haben sich gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt.

Auch die Berlinerin Susanne Lorenz demonstriert mit. Ihre beste Freundin sei Ukrainerin und hätte noch Familie in Kyiv. “Der persönliche Bezug zur Situation motiviert mich noch mehr, hier zu sein“, sagt sie. Der Demozug zieht weiter Richtung Brandenburger Tor.

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