Der Krieg nimmt die Worte: „Mariupol war die Hölle auf Erden“

Weil die ukrainische Historikerin Ljuba Danylenko keine Worte mehr findet, bittet sie andere, für sie zu sprechen – über den Alltag im Krieg.

Eine blonde Frau macht ein Selfie, neben ihr ein kleiner Junge im Drachenkostüm

Natalia Salnikova und ihr autistischer Sohn Foto: privat

Seit mehr als zwei Monaten ist Krieg in der Ukraine. Anfangs zählten die Menschen die Tage. Auch Ljuba Danylenko. Sie ist Historikerin und Übersetzerin. Ihr Tagebuch der ersten Woche wurde in der taz veröffentlicht. Und als der Krieg einen Monat alt war, schrieb sie erneut für uns auf, wie das Leben in der Ukraine in ein Vorher und ein Nachher gerissen wird und nichts die beiden Teile mehr verbindet. Am Anfang saugte der Krieg alle Aufmerksamkeit auf. Nur Schlaf bringe Erleichterung, schrieb Danylenko. Heute nimmt der Krieg ihr auch die Worte. Die Menschen können sich ihre Zukunft nicht vorstellen. Da ist nur Gegenwart, die am 24. Februar begann. Alles was davor war, ist wie aus einer Zeit, die unendlich weit zurückliegt.

15. 4., Mail an Ljuba Danylenko:

Liebe Ljuba, hoffentlich geht es Ihnen gut. Es ist alles so unendlich schlimm. So dämonenhaft schlimm. Es ist jenseits des Verstehens. Viele Menschen kämpfen nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Und ich hoffe, dass Sie weiter mit Worten kämpfen und für die taz Tagebuch schreiben …

Antwort von Ljuba Danylenko:

Liebe Waltraud, ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, aber ich werde es tun. Bloß habe ich Zweifel, dass es jemanden interessiert. Ich möchte auch Aussagen von anderen Menschen einfügen. Stimmen aus Mariupol. Ist das möglich? …

Sie solle den Wert der Tagebücher nicht unterschätzen, antworte ich, denn es sind Quellen. Auch für spätere Aufarbeitungen. „Eure Stimmen sind authentisch.“ Daraufhin schickt Danylenko den Text von Natalia Salnikova, einer Historikerin, die an der Donetsk State University of Internal Affairs arbeitet und aus Mariupol fliehen konnte:

Aus einer Mail von Natalia Salnikova:

Auf Ihre Bitte hin habe ich einen Teil meiner Kriegserfahrungen aufgeschrieben. Es tut mir leid, das ist sehr schmerzhaft und unangenehm. Denn diese Momente muss man beim Erinnern wieder erleben. Ich bin sehr froh, dass meine Familie bei mir ist, wir waren alle zusammen, als der Bombenhagel in unser Haus fiel. Jetzt bin ich in Krywyj Rih. Es ist schwierig, Pläne zu haben und gleichzeitig alles im Leben zu verlieren, besonders wenn man keine 20 Jahre mehr ist und ein behindertes Kind hat.

Meine Kriegserfahrung: Mariupol war die Hölle auf Erden. Am 15. März gelang uns die Flucht. Wir wohnten neben der Staatlichen Universität von Mariupol; dort befand sich das Hauptquartier unseres Militärs. Und neben unserem Wohnblock befand sich das Hauptquartier der territorialen Verteidigungseinheit. Deshalb hat die Russische Föderation unsere Nachbarschaft aus der Luft bombardiert. Es war schrecklich; sie bombardierten Tag und Nacht. Wir hatten Glück, wenn es uns gelang, Essen auf einem Feuer in der Nähe des Hauses zu kochen. Und es ist besonders schrecklich, wenn Sie ein autistisches Kind haben und ihm bei nichts helfen können. Du hast kein Essen, es hat nur 5 Grad in der Wohnung, und du kannst ihm nicht erklären, dass du nichts tun kannst. Wenn er wegen des Krachs ständig schreit und sich unter der Decke versteckt. Diese Lebenserfahrung wünsche ich nicht einmal meinem Feind.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Was in Mariupol passiert, treibt Ljuba Danylenko um. Jeden Tag Bomben und Tod. Und dann die Befürchtung, dass das, was berichtet wird, niemanden mehr interessieren könnte, wenn es länger als zwei Wochen her ist. Wie das, was eine 15-Jährige aus Mariupol, Natascha Gontscharenko, aufschrieb. Ganz sachlich. Ihr Tagebuch ist eigentlich zwanzigmal so lang. Es bricht am 15. März ab.

Nataschas Tagebuch im Zeitraffer:

24. 2. Um 5 Uhr morgens wurden wir von Explosionsgeräuschen geweckt.

25. 2. Der Beschuss und die Bombardierung des Ostufers begann. Es ist weit von unserem Haus, aber das Glas in der Wohnung zittert.

26. 2. Mama stopft Rucksäcke mit Dokumenten und dem Nötigsten voll, um sie mit in den Luftschutzkeller zu nehmen.

27. 2. Um 15 Uhr erstmals Alarm in unserer Gegend. 19.54 Uhr: Wieder Angst. Ich bleibe ohne Abendessen.

Die 15-jährige Natascha Gontscharenko Foto: privat

28. 2. Es wird kein Brot mehr geben. Die Kanonengeräusche aus dem nördlichen Teil der Stadt sind sehr gut zu hören. 20.25 Uhr – wieder Alarm. Der Himmel über Levy ist gelb, dort brennt es. Wir sitzen im Licht einer Taschenlampe im Unterstand.

2. 3. Strom, Wasser und Kommunikation wurden komplett unterbrochen. Sehr kalt in der Wohnung. Wir tragen mehrere Schichten Kleidung. Wir sitzen im Erdgeschoss. Wir hören sehr lautes Dröhnen. Blitze von fliegenden Granaten.

9. 3. Das Haus gegenüber wurde von großkalibrigen Raketen getroffen, Glas fiel auf Menschen. Schrapnell zerfetzte die Bäume. Wir holen Wasser aus einer Quelle. Zwei Kilometer entfernt. Nirgendwo sonst bekommt man Wasser. In der Wohnung 8 Grad; wir schlafen bekleidet unter zwei Decken. Wir kochen Haferbrei, Nudeln, Suppe. Ohne Kommunikation lebt man wie auf einer Insel.

10. 3. Bomben fielen in der Nähe des Entbindungsheims Nr. 3. Wir wissen nicht, wie viele verletzt wurden. Auch in meinem Zimmer war Glas zerbrochen und ein Schrapnell steckte im Rahmen. Das Haus wackelte wie bei einem starken Erdbeben. Wir haben das Foto von einem Bombentrichter gesehen, tiefer als 10 Meter. Ich verstehe, dass kein Unterschlupf uns retten wird, wenn die Bomben ins Haus fliegen.

12. 3. Die Bombardierungen hören nicht auf. Wir haben den ganzen Abend damit verbracht, Kerzen zu suchen, Vorräte zu finden. Mein Bruder spielt Klavier. Musik ist seine Liebe.

13. 3. Die Stadt verwandelt sich allmählich in eine Ruine.

14. 3. Ich erfuhr, dass meine Schule zerbombt wurde.

15. 3. Die ganze Nacht das Gebrüll von Explosionen, Granaten flogen am Haus vorbei. Von den oberen Stockwerken sieht man, dass die Innenstadt brennt. Die Nachbarn sagen, wir müssten weg, sonst würden wir auf der Flucht unter Beschuss geraten. Wir sind um 10 Uhr losgefahren. Der Weg ins 200 Kilometer entfernte Saporischschja dauerte 14 Stunden.

Natascha Gontscharenko ist so eine junge Frau, die jetzt, wenn sie vom vergangenen Schuljahr erzählt, so spricht, als läge die Zeit Jahrzehnte zurück. Die zerbombte Schule, auf die sie ging, soll eine der besten gewesen sein. „Erst kürzlich renoviert“, schreibt sie in ihrem Tagebuch. Wann ist kürzlich?

„Vor zwei Monaten begann ein Tag, der immer noch andauert. Ich lebe in einer verkehrten Welt“, schreibt Ljuba Danylenko, die uns das Tagebuch und die Notizen von Natalia Salnikova und Natascha Gontscharenko aus Mariupol zukommen ließ.

Dann schickt sie uns doch noch eigene Aufzeichnungen:

Aus Ljuba Danylenkos Mail vom 26. 4.:

Hier sind meine Notizen. Aber ich war schlechter Laune. Nichts ist zusammenhängend.

Die Ukraine war das größte Land Europas, bevor die Krim annektiert wurde. Ihr wollt es nicht glauben, oder? Kann ich verstehen. Es kam kaum in eurem Erdkundeunterricht vor. Ihr werdet sagen: Das war doch Russland. Russland liegt in Asien – geografisch wie mental. Das geografische Zentrum Europas aber liegt in der Ukraine. Ihr werdet es nicht glauben, weil es in Wikipedia anders steht. Und weil in deutschen Wetterberichten, Quiz- oder Talkshows nie von der Ukraine die Rede war. Außer wenn es um Tschernobyl ging.

Russlandfeldzug hieß es, nicht wahr? Obwohl es die Ukraine war, die 1941 komplett besetzt wurde und ungeheure Opfer im NS-Vernichtungskrieg lassen musste. 2,4 Millionen ukrainische Jugendliche wurden zur Zwangsarbeit in deutsche Fabriken, Familien und auf Bauernhöfe verschleppt. Aber ihr denkt, es waren russische Jugendliche, weil für euch das eine das andere ist.

Unterscheiden, den Ursachen auf den Grund gehen, historische Zusammenhänge erkennen.

Wir waren der Mühe überdrüssig, darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht aus Russland kämen. „Ach, ist das nicht dasselbe?“, habt ihr gefragt. Auch, dass die ukrainische Sprache eine andere als die russische ist. Richtiger wäre das Adjektiv russländisch. Denn russisch kommt von Rus. Und sie war in Kiew. Die Kiewer Rus. Der große und mächtige Staat im 9. bis 13. Jahrhundert.

Wie werde ich euch zukünftig durch Kiew führen? Früher habe ich es genossen, es den Besuchern und Besucherinnen zu zeigen. Zu Fuß vom Maidan über das Verwaltungsviertel zum Lawra, dann in die tiefste U-Bahnstation Arsenalna. Sie sah anders aus als andere, zur Hälfte der Warteraum hinten versperrt, als Bunker gedacht, habe ich halb gescherzt. Den Andreassteig hinauf. Steil. Künstler und Souvenirs, auch kitschige dort.

Das Magdeburger Recht. Alle ukrainischen Schüler und Schülerinnen wissen Bescheid, was es bedeutete. Mehrere Jahrhunderte hatte es Einfluss auf die Lebensordnung der Ukraine. Abgeschafft 1835 durch den russischen Zar Nikolai I.

Mein großer 26-jähriger Sohn kehrte nach zwei Jahren bei Microsoft in Kanada zurück in die Ukraine, weil er meinte, es ist das beste Land. Es hat Berge, Meere und Flüsse, Schnee im Winter und Wärme im Sommer. Wassermelonen aus Cherson ein Genuss. Gurken schmecken, Tomaten riechen. Ukrainischer Speck unübertroffen. Schnelles Internet, die billige und bequeme U-Bahn, Kunst, Musik und Freiheitsluft. Jetzt muss er wieder vom Ausland aus arbeiten, um uns und dem Land zu helfen.

Können Sie, liebe Ljuba, noch sagen, wie es Ihnen, Ihrem Mann, Ihrem fünfjährigen Sohn geht, frage ich nach. In ihren früheren Notizen tauchten diese immer wieder auf. Sie antwortet spätnachts:

Mein Ostap, mein kleiner Sohn, ist die meiste Zeit auf sich gestellt, da ich viel Arbeit habe. Ich telefoniere ständig mit den alten Leuten, ehemaligen NS-Zwangsarbeitern, überzeuge sie, dass ich keine Schwindlerin bin, sondern Hilfe anbieten will. Die, die wirklich in Not sind, fragen nicht viel, sie zittern vor Angst, weil ihre Häuser beschossen werden. Sie nehmen jede Hilfe an und weinen, dass man sich an sie erinnert. Vielen Dank unseren deutschen Spendern und Spenderinnen. Diese Arbeit hilft mir sehr, von schweren Gedanken abzukommen.

Der Frühling ist diesmal sehr kühl. Wie die Stimmung. Mein Mann ist an vorderster Front. In Erwartung der großen Offensive. Er beklagt den Mangel an Militärtechnik; an Mut mangele es nicht.

Er hat beschrieben, wie sie Menschen aus dem Gebiet von Cherson evakuiert haben. „Hättest du gesehen, wie Menschen ihre Kinder in den Kinderwagen über Felder schieben, wie eine Frau an einem Seil ihre behinderte Mutter im Rollstuhl schleppt, wie Hunde ihren Herrchen hinterherlaufen, es sind so viele … Die Menschen werden dann mit Bussen fortgebracht, und die Hunde bleiben bei den verlassenen Fahrrädern und warten. Es sind keine Menschen, die das angerichtet haben, es sind Bestien“, schreibt er.

Und dann Mariupol. Es ist unser großes Leid. Keine Worte zu finden dafür.

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Seit 2002 bei der taz, erst im Lokalteil, jetzt in der Wochentaz. 2005 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet für die Reportage „Schön ist das nicht“, 2011 wurde die Reportage „Die Extraklasse“  mehrfach prämiert. 2021 erschien ihr Roman "Brombeerkind" im Ulrike Helmer Verlag. Es ist ein Hoffnungsroman. Mehr unter: www.waltraud-schwab.de . Auch auf Twitter. Und auf Instagram unter: wa_wab.un_art

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