Spießertum von Influencerinnen: Biedermeier mit Matcha
Schöne junge Frauen posten in den sozialen Medien unrealistische Morgenroutinen. Warum ist dieser Rückzug in den eigenen Alltag so erfolgreich?
Es gibt sie! Diese Frauen, die einfach nur perfekt sind. Sie stehen um 5 Uhr morgens auf und sehen natürlicherweise wunderschön aus mit strahlender Haut. Sie trinken ein großes Glas Wasser mit einer perfekten Zitronenscheibe. Anschließend machen sie eine Runde Pilates, die sie zum Sexy-Schwitzen und nicht zum Eklig-Schwitzen bringt. Um sich zu erfrischen, duschen sie und tragen im Bad ihre Skincare-Routine mit High-End-Produkten auf. Bevor sie leichtfüßig durch ihre sonnendurchflutete, moderne und sehr neutral gehaltene Wohnung in die Küche tänzeln, planen sie sorgfältig den bevorstehenden Tag. Dann bereiten sie sich ein Frühstück mit einer immergrünen Avocado zu, machen sich fertig – in sportlicher Lounge Wear –, tragen ihre Haare hoch zum Dutt und machen sich dann an die Arbeit.
Empfohlener externer Inhalt
Es gibt sie, diese Frauen. Zwar nicht im richtigen Leben, dafür aber zuhauf auf Tiktok, Instagram und Youtube. Und sie haben einen Namen: „That girl“, zu Deutsch „dieses Mädchen“. Diese Mädchen sind allesamt jung, schlank, konventionell attraktiv und haben ihr Leben komplett im Griff. Jeder Handgriff sitzt, der Kaffee ist nie aus, nie wird verschlafen, nie hasten sie von einem Termin zum nächsten.
In diesem Trend finden mehrere Entwicklungen in den sozialen Medien zusammen, beispielsweise die #girlboss-Ära. Denn diese Frauen machen den ganzen Scheiß nicht aus Spaß. Alles Potenzial wird aus ihnen herausgewrungen. Zeitverschwendung gibt es nicht. Das Ziel: die beste Version ihrer selbst zu werden mit viel Disziplin und Arbeit.
Doch etwas hebt that girl von den tausenden Hustlers, Grinders und girl bosses auf Instagram hervor. Sie ist nie im Stress, nie exzessiv. Sie hat die „work hard, play hard“-Attitüde hinter sich gelassen. Wellness und Achtsamkeit sind wichtige Aspekte ihrer Morgenroutine; Sport und gesunde Ernährung ebenso. In der Hinsicht tun die Frauen in den Videos nichts Schlimmes – im Gegenteil. Alles, was sie zeigen, sind erwiesen gesunde Handlungen. Jede Ärzt*in wird empfehlen, sich zu bewegen, genug zu trinken, ausreichend zu schlafen und gesund zu essen. Doch was that girl gelungen ist, ist, aus Selbstfürsorge einen Wettbewerb zu machen.
Der ganze Alltag instagramable
Vor allem Instagram ist berüchtigt dafür, den User*innen nur die besten Seiten eines Lebens zu zeigen. Die verschiedenen Versuche, das soziale Medium ehrlicher und authentischer zu machen, sind immer wieder gescheitert. Für jede Frau, die ihre Dehnungsstreifen zeigt, gibt es 50, die mit unsichtbaren Filtern jede Hautunreinheit retuschieren. Das hat bedeutsame Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der oft jungen User*innen. Und das beschränkt sich keineswegs auf das Körperbild. Die britische Soziologin Professor Rosalind Gill von der University of London hat 2020 in einer Studie 175 junge Frauen und nichtbinäre Personen zwischen 18 und 30 Jahren zu ihrem Verhalten auf Social Media befragt. Das ernüchternde Ergebnis: 90 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen Instagram das Gefühl gibt, weniger erfolgreich als andere zu sein.
Und hier legt that girl ihre perfekt manikürten Finger in die Wunde. Plötzlich muss nicht nur der Urlaub instagramable sein, sondern der gesamte Alltag. Sich gesund und munter zu halten muss ästhetisch sein. Stabile Routinen und Gewohnheiten sind keine persönlichen Präferenzen mehr, denn es gibt hier ein Richtig und ein Falsch.
Fahrt ins Büro wird nicht gezeigt
Warum sind sie damit so erfolgreich? Die meisten Zuschauer*innen werden wissen, dass diese Routine unrealistisch ist. Denn sobald ein Faktor hereinkommt – Pendelei, eine Partner*in, die im Haushalt lebt, Kinder, Schichtarbeit, ist das schon nicht mehr zu schaffen. In den Videos selbst wird die Erwerbsarbeit nur durch die Blume erwähnt. Ist that girl eine Studentin, dann sieht man sie manchmal zumindest zur Uni gehen. Studiert wird etwa Anständiges und Schickes: Zahnmedizin, BWL oder auch, wenn sie etwas kreativer ist, Public Relations. Sind die Frauen berufstätig, wird nicht wirklich klar, was sie eigentlich tun. Die Fahrt ins Büro wird nicht gezeigt, manchmal gibt es Szenen, wie sich that girl an den Schreibtisch setzt. Aber es bleibt nebulös, was sie eigentlich tut, außer perfekt zu sein. Einige andere Content-Creatorinnen haben für ihren Kanal versucht, diese Morgenroutine zu befolgen. Die meisten scheiterten.
Eigentlich ist that girl eine Spießerin. Gäbe es so etwas wie Auras, wäre ihre beige wie ihre perfekte Couch. Im Film sind Protagonist*innen, die sich so starr an irgendwelche Routinen halten, eher eine traurige Figur. Sie benötigen eine Begegnung mit einem Freigeist, um mal aus ihrer Rolle herauszubrechen. Ein gutes Beispiel für diese Trope ist „und dann kam Polly“.
Jetzt plötzlich wollen alle Spießer*innen sein. Selbst wenn man nicht explizit nach #thatgirl-Content sucht, findet man sie. Viele Content-Creator*innen auf Tiktok, Youtube und Instagram taggen ihre Vlogs mit den Worten productive, habits, success. Auch beliebt sind Anleitungen, wie man that girl wird, die mit Binsenweisheiten daherkommen wie „wake up early“ oder „make your bed“. Auf Youtube, wo die Videos länger sind, gibt es zwar häufig einen kurzen Disclaimer, der sinngemäß aussagt, dass die perfekte Morgenroutine für jeden anders aussieht. Aber das ist nur ein Feigenblatt, denn die einzig wahre Routine wird im Video trotzdem gefilmt.
Die Kommentare und die Views können sich sehen lassen. Die meisten bewundern diese disziplinierte junge Frau auf dem Bildschirm. „You’re such an inspo!!“, “I just started to watch your videos and they really motivate me to be the best version of myself.“
Langeweile sah noch nie so gut aus
Woher kommt dieser Sinneswandel? Zunächst einmal sah Langeweile noch nie so gut aus. Da trifft man nicht auf den Mitarbeiter vom Bauamt, der morgens seine Wurststulle isst und sich dann ins Auto zwängt und zur Arbeit fährt. Hier spricht die Routine für Erfolg, für Glück, für Privilegien. Und es scheint so einfach und gut für dich zu sein. Einfach früher aufstehen und fünfmal die Woche Sport machen, dann wird alles supi. Diese Videos sind die femininere Version eines Motivationsseminars. Matcha statt Tschaka.
Doch man kann den Erfolg dieser Videos nicht ohne die Coronapandemie verstehen. Als im März 2020 die Welt stehen blieb, war das eine Zäsur. Viele verstanden diese Zwangspause als Startschuss für ihr neues Leben. Wenn nicht jetzt, wann dann, war die Devise: Selbstoptimierung in Zeiten einer weltweiten Krise.
Auch mit der Verdrängung der Coronapandemie aus der kollektiven Aufmerksamkeit leben wir in unsicheren Zeiten: Krieg, Klimawandel, ein allgegenwärtiger Rechtsruck. All das bedroht unser Leben und gleichzeitig können wir als Individuum nur begrenzt etwas tun. Ein Gefühl des Kontrollverlusts und der Orientierungslosigkeit macht sich breit. Ein häufiger Bewältigungsmechanismus ist die Flucht in das Innere, die Flucht aus der Politik hin zu dem, was wir kontrollieren können: unseren Alltag und unseren Körper. Diese Videos scheinen eine Antwort zu bieten auf die antike Frage: „Wie will ich leben?“
Es findet ein Biedermeierrevival statt, auch diesmal im Gegensatz zu einer sehr wohl politischen Jugend. Es ist eine Lebensaufgabe, den Lifestyle in den Videos zu leben und auch langfristig beizubehalten. Aber das scheint immer noch verlockender, als sich mit Dingen zu beschäftigen, die sich eh nicht ändern lassen.
Doch die wenigsten Zuschauer*innen werden wahrscheinlich selbst zu that girl, weil diese Routinen nicht zu schaffen sind. Viele werden es wahrscheinlich auch gar nicht erst versuchen – und sich trotzdem immer wieder diese Videos anschauen, um zu träumen: von einer Version von sich, die jeden Morgen ohne Snoozer direkt aufsteht und Sport macht und mal etwas Anständiges frühstückt. Einer Version von sich, die endlich glücklich ist und durch Acai-Bowls und Skin-Care ein wenig Frieden geschaffen hat. Und schon diese Gedanken machen uns weniger hilflos, denn es werden konkrete Schritte zur angeblichen Verbesserung des Lebens vorgelebt.
That girl ist eine perfekte Projektionsfläche mit einem modernen Heilsversprechen. Es ist eine Flucht in ein Idyll, und wie jedes Idyll kann es niemals erreicht werden. Und wenn es die Dame im Video noch so einfach aussehen lässt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“