piwik no script img

SUV-Unfall mit vier Toten in BerlinModellkiez als Antwort

Vor drei Jahren starben vier unbeteiligte Passanten in der Invalidenstraße. Rasch entstand ein Radweg, nun startet ein Anwohnerverfahren.

Ein Fahrradweg als Antwort auf den Unfall Foto: dpa

Berlin taz | Wild sprießen die Blumen gen Himmel. Struppig sehen sie aus, trotzig fast. Unten im Gras steht ein kleiner Holzlöwe. Der Junge, der hier auf dem Sophien-Friedhof in Mitte begraben liegt, wurde nur drei Jahre alt. Ein paar hundert Meter weiter wurde er überfahren, zusammen mit seiner 64-jährigen Großmutter und zwei 28 und 29 Jahre alten Männern.

Am Dienstag jährt sich der Unfall an der Invalidenstraße Ecke Ackerstraße zum dritten Mal. Er hat die Stadt aufgewühlt, verkehrspolitische Diskussionen ausgelöst und einen Kiez verändert. Was ist davon geblieben?

Der Fahrer eines Porsche Macan hatte seinen SUV binnen Sekunden auf über 100 Kilometer pro Stunde beschleunigt, war an vor der Ampel wartenden Autos vorbei auf der linken Spur ungebremst in eine Fußgängergruppe gerast. Die vier Menschen auf dem Bürgersteig hatten keine Chance.

Im Februar 2022 wurde der Fahrer zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Zwei Jahre darf er kein Auto fahren. Das Urteil ist rechtskräftig. Er hatte sich gegen den Rat seiner Ärzte nach einer Hirnoperation ans Steuer gesetzt, einen epileptischen Anfall erlitten und daher das Gaspedal durchgedrückt. Das konnte das Gericht in einem langwierigen Prozess klären. Offen blieb der genaue Ablauf des Unfalls.

Auf dem Weg zum Modellkiez

Anwohnerbeteiligung Gemeinsam mit Anwohner*innen, Ak­teu­r*in­nen und Bezirk will die TU-Berlin ein Mobilitätskonzept für die verkehrssichere Umgestaltung der Invalidenstraße und des angrenzenden Kiezes entwickeln.

Planungswerkstatt Vom 14. bis 18. September 2022 werden Gestaltungsvorschläge erarbeitet (werktags 16-20 Uhr, Wochenende 14-18 Uhr). Torstraße 208, modellkiez.hypotheses.org

Zugunsten des Angeklagten

Das Gericht ging zugunsten des Angeklagten von einem „nicht bewussten Ausschervorgang“ aus, hieß es in der Urteilsbegründung. Der Prozess sei eine Lehrstunde dafür, wie ungenau Zeugenaussagen seien, erinnert sich der Anwalt Lukas Theune, der im Prozess die Familie des Kleinkinds als Nebenkläger vertrat. „Es gab von 10 Zeu­g*in­nen 10 verschiedene Schilderungen.“ Mal habe es geheißen, der Fahrer sei völlig unauffällig gefahren, mal, er habe überholen wollen, um sich vorne an der Ampel vor alle anderen Autos zu setzen. Ein Uberfahrer habe ausgesagt, er habe schon vorher ein verbotenes Überholmanöver durch den Fahrer beobachtet. Die Richter seien folgerichtig von der für den Angeklagten günstigen Variante ausgegangen.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Ursächlich für den Unfall war die Gesundheit des Fahrers, nicht sein Auto, so lautete der verkürzte Tenor der Berichterstattung. Die Kritik, dass ein mit 400 PS völlig übermotorisierter SUV nichts in einer Innenstadt zu suchen habe, war für viele vom Tisch. Dabei wurde diese Frage vor Gericht schlichtweg nicht geklärt.

Umbau des Kiezes

Der Umbau des Kiezes hatte da längst begonnen. Tempo 30 wurde sofort verhängt. Kaum anderthalb Jahre nach dem Unfall wurden zudem die Parkplätze auf der Invalidenstraße gestrichen. Stattdessen gibt es dort auf 600 Metern Länge durch Poller geschützte Radwege, die so optimal sind, dass sie das Herz jedes Fahrradlobbyisten höher schlagen lassen.

Angekündigt waren zudem Haltestellenkaps, die den barrierefreien Einstieg in die Straßenbahn ermöglichen sollen. Ein Denkmal am Unfallort. Und der Kiez sollte zum verkehrspolitischen Modellprojekt werden.

Doch mittlerweile ist auch beim Umbau vor allem eins angesagt: Entschleunigung. Für die Haltestellenkaps, die laut Senatsverkehrsverwaltung ursprünglich schon 2021 angekündigt waren, will die BVG keinen Termin nennen. Das hänge auch von der anstehenden Sanierung des U-Bahn-Tunnels in der Brunnenstraße ab. Vor 2024 tut sich da nichts, heißt es aus der Senatsverwaltung.

Und der Gedenkort an der Unfallstelle? Dort soll ein Brunnen hin, den die Künstlerin Nina Schuiki entworfen hat. Das hat eine Jury Ende 2021 entschieden. In den Brunnen soll Sumpfschafgarbe gepflanzt werden, die anspielt „auf die Figur des Achilles aus der griechischen Mythologie, der sie zur Heilung der Wunden seiner Krieger verwendete“. Wann der Brunnen gebaut wird, ist offen. Die Finanzierung ist nicht geklärt.

Umfassende Problemanalyse

Nur mit dem Modellkiez geht es voran. Langsam, aber stetig. Das Fachgebiet integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin hat eine umfassende Analyse der Probleme aufgelistet. Hier fehlen Überquerungsmöglichkeiten für Fußgänger, dort Parkplätze für Lieferverkehr, für Behinderte, für Fahrräder. Nebenstraßen leiden unter Durchgangsverkehr, Ampeln sind Gefahrenorte, der Verkehrslärm ein Stressfaktor.

Über Lösungen wollen die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen der TU Mitte September mehrere Tage lang in einem sogenannten Charrette-Verfahren mit An­woh­ne­r:in­nen diskutieren. Kommen dürfen alle Interessierten.

Dass so etwas nicht ohne Widersprüche geht, zeigte sich erst letzten Donnerstag bei einem Kiezspaziergang mit dem Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Ephraim Gothe (SPD). Da schimpfte eine Anwohnerin über die nun schnelleren Radfahrer, durch den Radweg sei für Fußgänger alles unübersichtlicher geworden. Und dass Rentner mit kleinen Autos vertrieben würden, weil sie nicht mehr vor ihrem Haus parken könnten. Darauf stellte sich ein Anwohner als Rentner mit kleinem Auto vor und widersprach ihr vehement.

Bürgerbeteiligung führe zu Frustration, „wenn man es falsch macht“, betont TU-Professor Oliver Schwedes, der das Modellkiez-Projekt leitet. Deshalb sage er den An­woh­ne­r:in­nen stets zu Beginn deutlich, dass es keine Eins-zu-eins-Umsetzung ihrer Wünsche geben werde.

Am Ende entscheidet die Politik

„Am Ende muss die Politik entscheiden, was sie will“. Und auch, wie mutig sie ist. Ob sie das Risiko eingeht, sich bei Klagen auch mal eine blutige Nase zu holen. Intern, sagt Schwedes, habe er bereits angeregt, die Invalidenstraße einfach mal komplett zu sperren, wenn die Haltestellenkaps gebaut werden. So könne man „mal ausprobieren, was passiert“. Autofreiheit auf Probe also.

Von schnellen, endgültigen Varianten hält Schwedes wenig. Als Antwort auf einen Unfall mit toten Fußgängern wurde ein Radweg gebaut. „Ob das die beste Lösung ist, möchte ich bestreiten“, sagt er. Denn gerade in einer so engen Geschäftsstraße müssten Fußgänger Priorität haben.

Die Fußgänger ärgern sich derweil wie eh und je über lange Rotphasen an der am Unfallort wiedererrichteten Ampel. Von den Bildern, Kerzen und Blumen, die dort lange an die vier Opfer erinnerten, ist nur noch der dafür errichtete Holztrog übrig. Er ist leer. Dahinter sprießt ein Hagebuttenstrauch wild in den Septemberhimmel. Die Früchte sind leuchtend rot. Trotzig fast.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Was meiner Meinung nach zu wenig thematisiert wird ist das ein Auto mit 400 PS überhaupt gebaut wird. Noch dazu ein überdimensioniertes Auto.



    Die Größe des Autos und die enorm schnell e Beschleunigung sind kein angemessenes Verkehrsmittel sondern eine Waffe.



    In Augsburg tötete vor ein paar Tagen derFahrer eines 800 PS starken Bolliden bei einem Beschleunigungsvorgang der ihm entglitt eine 21jährige Mitfahrerin.



    Nachdem die Politik versäumt hat der Autoindustrie Angemessene Grenzen für Grüße und PS Ausstattung der Fahrzeuge zum Schutz von Menschen und Umwelt vor zu geben ist es nun höchste Zeit für ein Tempolimit um den Individualverkehr Menschen und Umweltverträglicher zu gestalten!

  • Für diesen Fall ist es wirklich unwichtig, welcher Art das Auto war, ob nun ein SUV oder meinetwegen VW Transporter.

    Wichtig ist, dass der Fahrer 100 km/h in der Innenstadt fuhr. Bei dieser zu hohen Geschwindigkeit wird der Aufprall, unabhängig vom Auto, fast immer für Fußgänger bei einem Aufprall tödlich. Das ist einfache Physik.

    • Gereon Asmuth , Autor des Artikels, Ressortleiter taz-Regie
      @Herbert Eisenbeiß:

      Doch. Einen VW-Transporter hätten sie auf der kurzen Strecke niemals binnen weniger Sekunden auf über 100 km/h beschleunigen können. Auch das gehört zur Physik des Autoverkehrs. Das schaffen nur entsprechend motorisierte Fahrzeuge, zum Beispiel SUV. Und sie haben noch einen Effekt: sie bieten denn Insassen eine unglaubliche Sicherheit, die Anlass zur Selbstüberschätzung sein kann.