Huthi-Rebellen im Jemen gegen Impfungen: „Religionsideologische Gründe“
Ein Junge erkrankt an Polio. Geimpft war er nicht – sein Vater glaubte den Mythen der Huthi-Rebellen. Im Jemen steigen die Fallzahlen.
Mit traurigen Augen betrachtet Haschims Mutter ihr Kind. Es sitzt nun im Rollstuhl. Im Juli 2022 warten die beiden in einer physiotherapeutischen Klinik in Jemens Hauptstadt Sanaa auf ihren Termin. Sie hofft, dass ihr Sohn eines Tages wieder stehen kann.
„Zuerst dachten wir, er sei müde von der Krankheit“, erzählt sie. „Dann sagte er uns, dass er seine unteren Gliedmaßen nicht mehr vollständig spüre. Die Nachricht traf uns wie ein Schlag. Wir brachten ihn in ein Krankenhaus nach Saada-Stadt.“ Dort bekommt die Familie die Diagnose: Haschim ist mit Polio infiziert. Dagegen geimpft war der Junge nicht.
Haschim ist eines von zwölf Kindern im Bezirk Razih, seiner Heimat im Gouvernement Saada, das an Polio erkrankt ist. Die meisten von ihnen seien zwischen sechs und zwölf Jahre alt, erzählt Haschims Mutter. Der Vater des Jungen, Mohammad Hussein, ist fest überzeugt: Woran sein Sohn leidet, kann nicht Polio sein. Seine Vorfahren, die Väter und Großväter, seien auch nicht geimpft gewesen, Impfstoffe eine „Verschwörung gegen Muslime“.
„Biologische Kriegsführung“
Im September 2014 übernahm die Huthi-Gruppe die Kontrolle über das Gouvernement Saada. Seitdem hat sie Impfungen behindert. Denn Impfstoffe seien, so die Propaganda der Gruppe, „eine jüdische Industrie, die darauf abzielt, die Gesellschaft zu zerstören“. Sie schwächten außerdem die sexuellen Fähigkeiten von Männern und verursachten bei Frauen Sterilität. Von den Huthi bestimmte lokale „Kulturaufseher“ wiederholen die Verschwörungsmythen in ihren jeweiligen Bezirken.
Abdul-Malik al-Huthi – Anführer der Huthi-Rebellen – sagte in einer Fernsehansprache im März 2020 über das Covid-19-Virus: „Viren und Epidemien sind biologische Kriegsführung, hergestellt von entwickelten Ländern in Laboratorien.“ Und: „Es gibt Länder, etwa die Vereinigten Staaten von Amerika, die diese Viren zu nutzen versuchen, um Menschen zu töten sowie Ländern und Gesellschaften zu schaden.“
Unter den Bewohnern der von Huthi kontrollierten Gebiete haben sich diese Verschwörungstheorien mittlerweile verbreitet. Das zeigt exemplarisch die Menge negativer Kommentare auf der Facebook-Seite von Unicef im Jemen. Sowohl die Organisation als auch die von ihr geförderten Impfungen werden angegriffen. Manche behaupten, Impfstoffe beeinträchtigten den Verstand von Kindern.
Im September 2020 gaben der Regionaldirektor des Kinderhilfswerks Unicef und der Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation eine gemeinsame Erklärung ab: Die meisten Poliofälle im Jemen konzentrierten sich auf das Gouvernement Saada. Denn die routinemäßigen Impfungen würden dort nur in geringem Umfang durchgeführt. In der Region seien seit über zwei Jahren keine Impfprogramme mehr durchführbar – eine Anspielung auf die Impfgegnerschaft der iranisch unterstützten Huthi-Rebellen.
„Die Impfteams kommen nicht mehr wie früher“
Laut dem Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten seien alleine in den ersten Wochen des August im Jahr 2020 mehr als 15 Poliofälle in Saada festgestellt worden. Lokale Schwierigkeiten schränkten die Möglichkeit einer Impfkampagne dort ein. Im Dezember 2021 warnte die Organisation vor einer zunehmenden Ausbreitung.
Im Februar dieses Jahres infiziert sich die vierjährige Amani in einem Dorf im Gouvernement Haddschah im Nordwesten des Jemen mit dem Poliovirus. Die Gegend wird ebenfalls von den Huthi kontrolliert. Innerhalb weniger Wochen nach der Infektion stirbt sie auf der Intensivstation des Al-Thawra-Krankenhauses in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa. Das Virus hat ihre Atemmuskulatur stillgelegt.
Abdullah, Amanis Vater, sagt, Amani habe seit ihrer Geburt keinen einzigen Impfstoff bekommen. „Die Impfteams kommen nicht mehr wie früher“.
Nawara Ali, eine Mitarbeiterin des Gesundheitswesens im von Huthi kontrollierten Gouvernement Hodeida, berichtet der taz, wie sie ihre Arbeit als Teil eines mobilen Impfteams in Hodeida erlebt: „Früher haben die Menschen ihre Kinder zur Impfung gebracht, aber nach der Propaganda und den falschen Informationen, die in letzter Zeit verbreitet wurden, kommen sie kaum noch. Einige Familien haben begonnen, ihre Kinder vor uns zu verstecken – sie leugnen, dass sie Kinder haben. Manchmal werden wir angegriffen, geschlagen und beschimpft.“
Im Jemen kursieren mehrere Polio-Varianten
Fragen der taz will das Gesundheitsministerium der Huthi nicht beantworten. Der Generaldirektor für epidemiologische Überwachung im Ministerium sagt lediglich, die Berichte über die Ausbreitung des Poliovirus in den von den Huthi kontrollierten Gebieten seien falsch. Zu weiteren Angaben sei er nicht autorisiert.
Muhammad Mustafa, ein hoher Mitarbeiter im Gesundheitsministerium der mit den Huthi verfeindeten jemenitischen Regierung, erklärt gegenüber der taz: „Der Ausbruch des Virus im Gouvernement Saada ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Huthi-Gruppe seit 2005 aus religionsideologischen Gründen die Durchführung von Impfkampagnen verhindert hat.“
Im Jahr 2019 sei das Virus zunächst nur in Saada aufgetreten. Im August 2021 habe es den ersten Fall in einem von der Regierung kontrollierten Bezirk gegeben. Das infizierte Kind sei aus den von den Huthi kontrollierten Gebieten eingereist.
Mustafa sagt: „Derzeit gibt es in den von Huthi kontrollierten Gebieten drei verschiedene Varianten des Poliovirus.“ In den Regierungsgebieten gebe es dagegen nur eine Variante – „das Ergebnis der kontinuierlichen Impfkampagnen“, betont er.
Teil der Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung
Der Jemen hatte sich 1988 der globalen Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung, die von dem Poliovirus verursacht wird, angeschlossen. Unicef und WHO sind wichtige Partner der Initiative. Nach Angaben des jemenitischen Gesundheitsministeriums erhält das Land jährlich zwei bis vier Millionen Impfstoffdosen – gegen Polio, Masern und Röteln – von der Global Vaccine Alliance, einer Stiftung, die den Zugang zu Impfungen in Entwicklungsländern verbessern will.
Der Gesundheitsminister der jemenitischen Regierung, Qassem Behaiba, sagt: „Polio kam im Jemen eigentlich seit 2009 nicht mehr vor – auch dank internationaler Organisationen und Geber. Doch die Rückkehr des Poliovirus hat die Bemühungen der letzten Jahrzehnte zunichtegemacht.“
Mitarbeit: Lisa Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin