Vor den Wahlen in Italien: Kalkulierter Einsatz
Rechtspopulistin Meloni verbreitet ein mutmaßliches Vergewaltigungsvideo. Um das Opfer geht es ihr nicht – sondern um Hetze gegen Migranten.
Wie üblich in Italien findet das Video sofort seinen Weg auf die Websites diverser Zeitungen. Auch „Qualitätsmedien“ wie der römische Messaggero haben kein Problem mit der Veröffentlichung der Bilder, auf denen zwar wegen der Verpixelung nicht viel zu sehen ist – doch die markerschütternden Schreie des Opfers sind überdeutlich zu hören.
Für sich genommen wäre das die unschöne Mediennormalität Italiens. Doch die Zeiten im Land sind gerade nicht normal. Es steht mitten im Wahlkampf, am 25. September wird das neue Parlament gewählt. Giorgia Meloni, der Frontfrau des bei den Wahlen klar favorisierten rechten Lagers, ist nicht entgangen, was alle Websites sofort gemeldet hatten: Das Opfer soll aus der Ukraine stammen, während der mutmaßliche Täter ein Asylbewerber aus Guinea sein soll. Und Meloni postet das Video umgehend auf ihrem Facebook-Account.
„Man kann nicht schweigen angesichts dieses grausamen Akts sexueller Gewalt, begangen am helllichten Tag“, schreibt sie dazu, dann hat sie noch „eine Umarmung für das Opfer“ in ihrem Repertoire, vor allem aber das Versprechen: „Ich werde alles mir Mögliche tun, um unseren Städten die Sicherheit zurückzugeben.“
Angriff gegen Linke
„Das von Giorgia Meloni gepostete Vergewaltigungsvideo ist unanständig und würdelos“, befand wiederum Enrico Letta, Chef der größten Partei des Mitte-links-Lagers, des Partito Democratico, und damit Hauptwidersacher Melonis bei den Wahlen. Doch die 45-jährige Vorsitzende der postfaschistischen Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) legte nach: Letta sei doch derjenige, der „schmutzige Propaganda“ treibe und „Lügen verbreitet“, das sei „charakteristisch für die abgewirtschaftete Linke“.
Und dann rückt sie mit ihrer ganz eigenen Wahrheit heraus: Es sei die Linke, die „sich der Tatsache stellen muss, dass die öffentliche Sicherheit außer Kontrolle ist, auch dank der surrealen Einwanderungspolitik der letzten Jahre“. Darum geht es ihr; dafür sind die Schreie des Opfers auf dem Video gut, die nur deshalb auf Melonis Facebook-Seite zu hören sind, weil der Täter aus Guinea kommt.
Was ihre Linie beim Thema Flucht und Einwanderung ist, hatte sie schon einige Tage zuvor auf Facebook mit einer Gegenüberstellung „Wir – sie“dargelegt. „Wir“: „Verteidigung der Grenzen, Seeblockade, um den Menschenschmuggel und die Toten im Meer zu verhindern.“ „Sie“: Lettas PD, „sperrangelweit geöffnete Häfen und Massenanlandungen“ von Migrant*innen.
Sicherheit auf Italiens Straßen
Noch vor zwei Wochen dagegen hatte Meloni sich dem internationalen Publikum auf Samtpfoten präsentiert: in einer auf Englisch, Französisch und Spanisch aufgenommenen Videobotschaft, in der sie dem europäischen Publikum versicherte, die Fratelli d’Italia hätten den Faschismus hinter sich gelassen, ihn „der Geschichte überantwortet“, sie seien eine fest im atlantischen Bündnis und in Europa verankerte Kraft.
Solche Samtpfoten hat sie nun in Boxhandschuhe gesteckt. Ihr ist einigermaßen egal, dass jetzt die Bürgermeisterin von Piacenza, Journalistenverbände und Frauenvereinigungen gegen die Veröffentlichung des Vergewaltigungsvideos auf Medienwebsites ebenso wie auf Melonis Facebook-Seite protestieren. Der Skandal sei „nicht das Video, sondern die Vergewaltigung“, bemerkt sie trocken.
Dass der vorgebliche Sicherheitsnotstand in den Städten eine pure Erfindung ist, ficht sie, ficht die gesamte italienische Rechte in ihrem Wahlkampf nicht weiter an. Am 15. August veröffentlichte das Innenministerium die neuen Kriminalitätsstatistiken für den Zeitraum August 2021 bis Juli 2022: erneut weniger Morde, weniger Raube. Die Zahlen bilden einen nunmehr seit drei Jahrzehnten anhaltenden Trend von immer größerer Sicherheit auf Italiens Straßen ab. Doch Meloni hält das nicht davon ab, Tag für Tag mit dem Schreckgespenst des kriminellen Ausländers Wahlkampf zu machen, mit Lügen und „surrealen“ Texten, um ihre Worte aufzugreifen. Am 19. August postete sie ein weiteres Video, worin sie aus dem Off behauptet, man sehe dort „eine Gruppe von Immigranten, die Panik verbreiten und die Passanten verschrecken“. Die Bilder allerdings zeigen etwas völlig anderes: die recht ruppige Festnahme eines Afrikaners durch vier Polizisten, ohne dass auch nur einer aus der „Gruppe der Immigranten“ mehr täte, als den Vorfall zu filmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“