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Bericht von Amnesty InternationalAuf der Suche nach der Wahrheit

Die Organisation erhebt Vorwürfe gegen die ukrainische Armee. Diese soll Zi­vi­lis­t:in­nen nicht ausreichend geschützt haben. Kiew weist dies zurück.

Bachut am 24. Juni: Eine Anwohnerin steht vor ihrem schwer beschädigten Haus Foto: Efrem Lukatsky/ap

Berlin taz | Die Reaktionen aus der ukrai­nischen Hauptstadt Kiew ließen am Mittwoch nicht lange auf sich warten. „Jegliche Verstöße der ukrainischen Armee haben den Charakter einer Informationsoperation, um die Streitkräfte der Ukraine zu diskreditieren und die Waffenlieferungen westlicher Partner zu untergraben“, sagte Michail Podoljak, Berater des Leiters des Präsidialamtes, dem ukrainischen Nachrichtenportal focus.ua. Das Leben und die Gesundheit aller Staats­bür­ge­r*in­nen unter den Bedingungen von Russlands barbarischer Aggression zu schützen, habe für die ukrainischen Streitkräfte absolute Priorität, sagte er.

Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba meldete sich zu Wort. „Ich habe genau wie Sie die Erklärung von Amnesty International gesehen. Ich bin ebenso wie Sie empört, ich finde das ungerecht. Amnesty International geht es nicht darum, die Wahrheit zu finden, sondern darum, ein falsches Gleichgewicht zwischen Täter und Opfer herzustellen“, sagte Kuleba in einer Videobotschaft. Amnesty solle damit aufhören, eine falsche Realität zu schaffen, in der jeder für etwas Verantwortung trage, und wahrheitsgemäß darüber berichten, was das heutige Russland sei.

Die Äußerungen von Podoljak und Kuleba beziehen sich auf einen Bericht von Amnesty International (AI), der am Donnerstag Morgen veröffentlicht worden war. Unter dem Titel „Die ukrai­ni­sche Kampftaktik gefährdet Zivi­lis­t*in­nen“ erhebt die Menschenrechtsorganisation Vorwürfe gegen die ukrainische Armee.

Diese operiere bei ihrem Versuch, russische Angriffe zurückzuschlagen von dicht besiedelten Wohnvierteln aus und setze dadurch die Bevölkerung Risiken und Gefahren aus. Das sei eine Verletzung von Kriegsgesetzen. „Der Umstand, in der Position des Verteidigers zu sein, entbindet das ukrainische Militär nicht davon, das internationale humanitäre Völkerrecht zu respektieren“, heißt es in dem Bericht.

Wohnhäuser als Stützpunkte

Dieser stützt sich, laut AI, auf Vor-Ort-Recherchen zu russischen Angriffen zwischen April und Juli in den Regionen Charkiw, Donbass und Mykolajiw. Dem Bericht zufolge sollen ukrainische Streitkräfte von dicht besiedelten Wohngebieten beziehungsweise Wohnhäusern aus in 19 Städten und Dörfern Militärschläge ausgeführt haben. Für die Untersuchung seien auch Satellitenbilder herangezogen worden. Die meisten Wohngebiete seien kilometerweit von der Front entfernt, jedoch Ausweichmöglichkeiten, wie Militärbasen, seien gegeben gewesen.

Angaben von Be­woh­ne­r*in­nen der Stadt Bachmut zufolge soll die ukrainische Armee ein Gebäude in nur 20 Meter Entfernung von einen mehrstöckigen Wohnhaus als Stützpunkt genutzt haben. Bei einem russischen Angriff am 18. Mai seien mehrere umliegende Häuser schwer beschädigt worden. Der Bericht zitiert eine Überlebende mit den Worten: „Ich musste dort bleiben, weil meine Mutter nicht weg wollte, sie ist krank.“ Und ein anderer Bewohner: „Bei dem, was das Militär macht, haben wir nichts mitzureden. Aber wir zahlen den Preis dafür.“

Laut der Dokumentation von AI hätten die ukrainischen Streitkräfte an fünf Orten de facto Krankenhäuser sowie, vor allem in den Regionen Donbass und Mykolajiw, 22 Schulen als Stützpunkte benutzt – ein klarer Verstoß gegen internationales Recht. Schulgebäude waren und sind immer wieder Ziel russischer Angriffe. AI berichtet von drei Städten, wo ukrainische Truppen danach zu anderen nahe gelegenen Schulen weitergezogen seien.

„Viele der von AI dokumentierten russischen Angriffe sind willkürlich und werden mit international geächteten Waffen, wie Streubomben, ausgeführt.“ Das sei auch durch die ukrainische Kampfpraxis in keinster Weise gerechtfertigt, schreibt AI weiter.

Das russische Webportal Kommersant, ein Qualitätsmedium, das jedoch bei kritischen Rus­s*in­nen zusehends an Reputation eingebüßt hat, bemühte sich um eine objektive Berichterstattung über den Bericht. Im letzten Satz heißt es: „Die Menschenrechtsorganisation wirft Russland auch weiter Kriegsverbrechen im Verlaufe dieser Militäroperation vor, die am 24. Februar begonnen und die Wladimir Putin angeordnet hat.“

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18 Kommentare

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  • Wahrheit kommt von Wahrnehmung und ist daher immer subjektiv.



    Statt nach Wahrheiten sollte man daher besser nach objektiven Tatsachen suchen. Diese sind nämlich objektiv und unveränderlich.

  • AI hat hier wirklich unglücklich kommuniziert und die Wirklichkeit des Krieges und den Überlebenskampf der Ukrainer ausgeblendet. Losgelöst mag der Sachverhalt zum Teil ja korrekt recherchiert sein, wobei auch hier es kein absolutes Verbot, zivile Gebäude für militärische Zwecke zu nutzen, gibt. Aber die Publizierung in einem dynamischen Krieg derart unreflektiert zu platzieren ist ungeschickt. AI hätte wissen müssen, dass es so dem Kriegsverbrecher Russland in die Hände spielt und in die Kriegsdynamik unmittelbar eingreift. Unparteiisch ist das nicht.

    • @Ulrich Haussmann:

      Doch, das ist überparteiisch; es ist die Aufgabe von AI, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren - egal von welcher Seite. In dem Moment, in dem man Informationen zurückhält, weil sie propagandistisch genutzt werden könnten, gibt man seine Neutralität auf - und korrumpiert sein eigenes Anliegen, weil man die Universalität der Menschenrechte taktischen Überlegungen unterordnet.



      Im übrigen rate ich dazu, den AI-Bericht auch zu lesen - die Informationen werden dort ja durchaus kontextualisiert.

  • 6G
    659975 (Profil gelöscht)

    AI macht es sich etwas leicht. Auf Verstöße hinzuweisen, die in Ländern oder durch Länder mit einem einigermaßen funktionierenden Rechtssystem begangen werden, läßt sich leicht reden.



    Wann kommt den der Bericht über russische Kriegsverbrechen? Der sollte etwas umfangreicher werden, vermute ich...?



    Der Apartheitsvorwurf gegen Israel geht in die gleiche Richtung.



    Welche Verstöße gibt es in den Palestinänser Gebieten von Hamas und den anderen "Organisationen", die dort aus Wohngebieten ihre Raketen abschießen? Wer als kleiner Geschäftinhaber in Gaza kein Schutzgeld an Hamas bezahlt, kann schließen.



    Ägypten, Syrien, Libanon, Irak.....Israel ist sicherlich nicht perfekt, aber die Menschen in den Nachbarländern würden sich freuen in so einem Rechtsstaat und Demokratie zu leben, wie Israel es ist.

    • @659975 (Profil gelöscht):

      AI kritisiert sogar in dem Bericht, in dem die Probleme der ukrainischen Kriegsführung thematisiert werden, Russland - und auch in den letzten Monaten keinen Zweifel daran gelassen, wie sie zu dem Krieg steht:



      www.amnesty.de/all...rdet-zivilpersonen



      Es ist also schlichtweg falsch AI Einseitigkeit vorzuwerfen, sobald auch Vergehen der jeweils präferierten Seite angesprochen werden.

      • @O.F.:

        Von 35 Absätzen in dem von Ihnen verlinkten Bericht richten sich, je nach Wertung, 33-34 gegen die Ukraine und 1-2 gegen Russland. Wenn Sie daraus ableiten "wie sie zu dem Krieg steht", ist dies überraschend eindeutig.

        • @BluesBrothers:

          Ich kann nur dazu raten, den Text noch einmal zu lesen; auf aggressive Fehlinterpretationen reagiere ich jedenfalls eher launisch.

      • @O.F.:

        Es war schon Immanuel Kant aufgefallen und ist daher überliefert: "Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Menschen macht, als er deren wegnimmt" - vielleicht macht er böse Menschen noch böser. Ich sehe keine diplomatische Lösung, aber NGOs haben ihre eigenen Blickwinkel, da kann es auch mal ungeschminkt undiplomatisch rüberkommen. Sich Kritik zu verbitten ist keine demokratische Tugend. Über den Rückhalt von AI bin ich erstaunt. Der Bericht stößt wahrscheinlich im elektrisieren Umfeld auf einige geladene Personen.

  • Komisch, wenn die Hamas das angeblich im Gazastreifen macht. Heulen unsere Medien herum. Wie soll da Israel keine Zivilisten töten, wegen solchen Aktivitäten. Bei der Ukraine auf einmal komplett anderes Bild.

    Danke Amnesty, der Westen bekommt wieder seinen schönen Spiegel vorgezeigt und macht genau DAS was man nur in seinem Alpträumen erhoffte...

  • Und ein anderer Bewohner: „Bei dem, was das Militär macht, haben wir nichts mitzureden. Aber wir zahlen den Preis dafür.“



    So wird das auf allen Seiten sein, egal ob Demokratie oder Diktatur.



    Und: Bei dem, was die Politiker machen, haben wir nichts mitzureden. Aber wir zahlen den Preis dafür.- passt auch!



    www.sueddeutsche.d...aesident-1.5131309



    Es muss auch deutlich gemacht werden, dass größere militärische Eskalationsstufen meist von Politikern weniger von Militärs ausgehen. Wir ( auch die Ukraine)hätten einige Probleme weniger wenn z.B. Kay-Achim Schönbach unser Aussenminister gewesen wäre. Der ist in seiner damaligen Position unmittelbar nach seiner Aussage (www.youtube.com/watch?v=MhpA3D7nZcc) zurückgetreten worden. Dagegen kann man sich im Sinne der Politik auch bewähren: www.spiegel.de/pol...dert-a-892278.html

  • Ich frage mich jeden Tag aufs Neue:



    "Wo und wann ist unser gesunder Menschenverstand falsch abgebogen?"

    Unzählige sind aus der Ukraine geflohen. Immer wieder fordert man die Menschen auf zu flüchten. Und ja, diesen Berichten glaube ich.



    Das Busse, Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser gezielt(!) von Russland angegriffen werden, hat man das vergessen?

    Man erinnere sich auch an das Asow Stahlwerk bei dem Soldaten Zivilisten verteidigt haben bis diese evakuiert werden konnten.

  • Der verlinkte Bericht von AI macht sehr deutlich, dass es um alles andere als um eine Täter-Opfer-Umkehr geht, auch die Aktion unter dem Bericht "Stoppt den russischen Angriffskrieg" macht dies mehr als deutlich.

    Ebenso deutlich wird aber, dass die ukrainische Armee sich in Krankenhäusern, Schulen und Wohngebieten einquartierte und von dort Beschüsse durchführte. Es handelt sich hier um eine wochenlange Untersuchung von AI und wie es sich darstellt, ist die Beweislage hier schlichtweg überwältigend.

    Es ist völlig unstrittig, dass das Einquartieren in Schulen und Krankenhäusern und die Durchführung von Beschuss aus diesen Gebieten illegitim ist. Genau so wurde es bisher auch regelmäßig in anderen Kriegen gesehen. Es gibt keinen Anlass, nunmehr die Maßstäbe zu ändern.

    Es ist beunruhigend, dass bisher von ukrainischer Seite ausschließlich komplett unbegründete Beschimpfungen gegen AI kommen, die die Qualität aufweisen, wie man sie aus Russland kennt.

    Plötzlich wird AI zum Instrument der russischen Propaganda erklärt und damit dämonisiert.

    Es ist zu hoffen, dass sich die Verantwortlichen besinnen und die Kriegsverbrechen stoppen, es ist auch zu hoffen, dass nicht im Sinne einer falsch verstandenen Solidarität sich Politik und Medien in westlichen Ländern dazu entscheiden, diese Kriegsverbrechen zu dulden oder kleinzureden. Wer Waffen liefert, ist mitverantwortlich dafür, wie und wo sie eingesetzt werden.

    Russland wird die Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite sicher nicht bedauern, sondern freut sich über sie und wird sie als Legitimation für die eigenen Kriegsverbrechen nehmen. Genau hier liegt der Fehler, zu meinen, Kriegsverbrechen könnten jemals Kriegsverbrechen rechtfertigen. Auch dass die russischen Kriegsverbrechen schwerer sind, rechtfertig die ukranischen nicht.

    Dass der Überbringer der Nachricht angegriffen wird (die TAZ widmet diesem Angriff einen eigenen Kommentar), weist darauf hin, in wie dunklen Zeiten wir weiterhin leben.

    • @PolitDiscussion:

      Toller Beitrag, vieles passt ins Bild 'Schreiben, was ist'. Lothar Zenetti lieferte mit einem Text als Gedicht eine schöne Vorlage für Musiker. "Was keiner wagt, das sollt ihr wagen. Was keiner sagt, das sagt heraus..." Ertragen muss mensch auch unbequeme Fakten/ Wahrheiten. Ich rate ebenso dazu, den Bericht selbst zu lesen. Interpretieren kann man die Darstellung von AI sicherlich verschiedenerlei.

  • Die Amnesty-Sichtweise ist eine völlige Verkennung der Realität. Es geht hier nicht darum, dass verschiedene Gruppen freiwilliger Soldaten in den Wald gehen und dort Krieg spielen, dabei aber die Regeln einhalten müssen. Es geht darum, dass ein überfallenes Land mit zu wenig Unterstützung der Nachbarländer sich gegen einen brutalsten Vernichtungskrieg wehren muss. Ich habe nicht gelesen, dass Amnesty den Einsatz von ungenauen russischen Langstreckenraketen auf Stadtzentren so detailliert und ausdrücklich kritisiert, wohl aber, wenn einige Soldaten sich in einem Krankenhaus ausruhen und etwas essen.



    Immerhin die russischen Mörder und Vergewaltiger werden sich durch dieses Verhalten von Amnesty besser fühlen.



    Wirklich traurig das Ganze.

    • @Matthias Nord7:

      "Ich habe nicht gelesen..."



      ...was nicht der Fehler von AI ist; der gegenwärtige Bericht und alle anderen Stellungnahmen von AI sind problemlos online zugänglich; diese zu ignorieren darauf aufbauend mit Vorwürfen wie "Verkennung der Realität" um sich zu verwerfen, ist eine fragwürdige Argumentationsstrategie. Im übrigen kann man nicht die Universalität von Menschenrechten einfordern, Verstöße gegen diese aber relativieren, sobald sie von der jeweils präferierten Seite ausgehen.

      • @O.F.:

        "der gegenwärtige Bericht und alle anderen Stellungnahmen von AI sind problemlos online zugänglich;"

        Wo denn? Völlig ernstgemeinte Frage. Sie verlinken weiter oben was, aber das ist nur die Pressemeldung. Auch auf der englischen Seite findet sich nur die Pressemeldung. Wo findet sich der eigentliche Bericht, ich würde den gern lesen.