Trendwort „toxisch“: Vergiftete Vokabel
In Ratgebern heißt es stets: Trenne dich von „toxischen“ Leuten. Doch mit dem Wort sollte man nicht Individuen bezeichnen, sondern komplexe Probleme.
Sieben Anzeichen, dass du die toxische Person bist“ lautet die Überschrift eines Artikels bei Brigitte.de. Ich ahne Übles. Aber ich mache den Test.
„Du hast starke Verlustängste“, steht da als erstes Anzeichen. Dann: „Du kommunizierst deine Bedürfnisse nicht klar. Du sagst ‚alles okay‘, wenn es das nicht ist. Du tust Dinge für andere, weil du dich gut fühlen willst …“ Ich muss nicht weiterlesen: Ich bin so was von „toxisch“. Irgendwo zwischen Asbest und Arsen.
Schon klar, Brigitte.de reagiert hier sehr wahrscheinlich nur satirisch auf einen fragwürdigen Trend: Alle Leute, die einem nicht guttun, „toxisch“ zu nennen. „Jeder und alles ist plötzlich toxisch“, schreibt Brigitte.de. „aber nie wir.“
Stimmt. Mit „Google Trends“ kann man sich anzeigen lassen, wie beliebt Suchbegriffe sind und waren. Das Interesse an dem Wort „toxic“ in den USA, wie auch an „toxisch“ in Deutschland, nimmt seit 2017 stetig zu. 2017 war das Jahr, in dem die #MeToo-Bewegung den Ausdruck „toxische Männlichkeit“ populär machte. Um zu sagen: „Hey, sexualisierte Gewalt ist überall, und sie vergiftet uns!“ Das Wort „toxisch“ hat sich seitdem verbreitet. Mit verfälschter Bedeutung.
Keine Feel-good-Vokabel
Beliebter als heute war der Suchbegriff nur mal kurz Anfang 2004. Da erschien der Song von Britney Spears, Sie wissen schon, der mit den Geigen. „Don’t you know that you’re toxic?“ Wäh-wäh-wäwäwäh. Im selben Jahr sang die deutsche Castingband Nu Pagadi „Sweetest Poison“. 2004 war toxisch gleich sexy. Heute, im Dauerdiskurs über Gesundheit und schadstofffreie Ernährung ist das anders. Wer toxisch ist, gehört rausgeflusht. Der Chef, die Ex, die Eltern. Und am Ende – Brigitte.de-Plottwist – ich selbst. Dabei ist es psychologisch fragwürdig und auch sonst umstritten, ob einzelne Menschen „toxisch“ sein können.
„Toxisch“ im Zusammenhang mit #MeToo meinte auch nie einzelne Personen. Im Gegenteil. Es meint etwas, das schlecht für uns ist, ohne dass es dafür schlechte Menschen braucht. Zum Beispiel Aspekte von Männlichkeit. Machtgehabe, Dominanz, das Gerangel um die höheren Plätze in der Genderordnung. Grapschen, Schlagen oder subtiler, Sprüche über Aussehen und sexuelle Leistung. Ein frustrierter Mann demütigt den anderen vor den Kumpels. Der wiederum belästigt eine Kollegin. Die lässt ihren Frust an der Putzfrau aus. Das Gift gleitet durch die Nervenbahnen der Gesellschaft wie Quecksilber. Sammelt sich bei denen, die niemanden mehr „unter“ sich haben: prekäres Servicepersonal, Sexarbeiter*innen, Kinder, Papierlose.
„Toxisch“ ist ein Wort für komplexe Probleme. Es ist nicht dafür da, um Personen als ungesund zu definieren und wegzudetoxen. Es ist auch keine Feel-good-Vokabel für die nächste Trennung. Ich bin nicht toxisch, Sie sind nicht toxisch, Ihr Chef und Ihre Ex auch nicht. Niemand ist toxisch. Außer bei Britney natürlich. Wäh-wäh-wäwäwäh.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“