Tagebücher junger Juden und Jüdinnen: „Freude ist für mich verboten“
Jüdische Kinder und Jugendliche schrieben Tagebuch während der NS-Zeit. „Der papierene Freund“ macht einige der erschütternden Zeugnisse zugänglich.
Handschriftliche Notizen vom 30. Juli 1940 bilden den aschgrauen Hintergrund für sechs Fotografien. Vier Mädchen, zwei Jungs. Ihre Namen sind bekannt: Lena Jedwab, Rutka Lieblich, Irena Grocher, Ellis Paraira, Ephraim Fryderyk Sternschuss, Peter Feigl.
Sechs von 30 jüdischen Jugendlichen, die während der nationalsozialistischen Verfolgung Tagebücher geschrieben haben; elf von ihnen haben nicht überlebt, sie wurden deportiert und ermordet. Doch ihre Tagebücher liegen nun in einer vorbildlichen Edition vor, eingeleitet, einfühlsam gekürzt und kompetent kommentiert von dem Historiker Wolf Kaiser, dem ehemaligen Leiter der Pädagogik an der Berliner Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
Die Tagebücher sind in unterschiedlichen Ländern entstanden, nicht nur in Österreich und Deutschland, in westeuropäischen Ländern wie Frankreich und den Niederlanden, sondern auch in Ländern wie Tschechien, Ungarn, Rumänien, Polen, den baltischen Staaten, der Ukraine und der Sowjetunion. Sie sind in neun Sprachen verfasst, auf Deutsch, Französisch, Niederländisch, Tschechisch, Polnisch, Jiddisch, Litauisch, Russisch und Ungarisch.
Alle überlieferten fremdsprachigen Texte wurden sorgsam übersetzt, um sie deutschsprachigen Lesern zugänglich zu machen. Wie es Kaiser in seiner Einleitung betont, um zu verdeutlichen, „wie die jüdische Jugend Europas die auf ihre Vernichtung zielende Verfolgung erlebt hat und wie sie sich dazu verhielt.“
2.300 Kilometer von der Heimat entfernt
Eine dieser Jugendlichen war die in Białystok, Polen, geborene Lena Jedwab (1924–2005). In Litauen 1941 vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion überrascht, wurde sie in einen Ort in Udmurtien in der Nähe des Urals evakuiert und lebte dort zunächst in einem Kinderheim. 2.300 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, abgeschnitten von jeglichem Kontakt zu ihrer Familie, zu Verwandten und Freunden.
Jedwabs Tagebuch beginnt im Oktober 1941 und endet im September 1944. Im Oktober 1941 notierte sie: „Der verdammte Krieg hat mir mein Zuhause genommen, meine Eltern, Lehrer, Freunde! … Das Schicksal hat mir das Leben geschenkt, damit ich leiden kann, damit ich alles, was mir heilig ist, zugrunde gehen sehen kann. Ich werde ein Schatten meiner selbst.“
Mit Blick auf ihren 17. Geburtstag schrieb Lena Jedwab: „Die schönsten Jahre im Leben eines Menschen. Für mich sind sie verloren; Freude ist für mich verboten … Am 16. Juni verließ ich Białystok als eine Enthusiastin, eine naive Träumerin, die durch eine rosarote Brille auf das Leben schaute, die uneingeschränkt an die menschliche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit glaubte … Ich bin vorzeitig erwachsen geworden und dreimal älter.“
In ihrer jiddischen Muttersprache vertraute sie ihre Gefühle und Gedanken ihrem Tagebuch an: „Mein Tagebuch ist mein intimster Freund! … Mein papierener Freund, du bist Teil meines Seins. Ich hoffe, daß Du mich nicht verrätst, weil Du auf Jiddisch bist und wenige hier das lesen können. Und vor denen, die es lesen können, kann ich es gut verbergen!“
„Zuallererst muss man auch vom Leben lernen!“
Zwar erfüllte sich 1943 ihr Wunsch, Sprachen und Literatur in Moskau zu studieren, doch war sie nach Kriegsende mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, dass ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister in Treblinka ermordet worden waren. Jedwab kehrte nach Polen zurück, doch emigrierte sie wegen des zunehmenden politischen Drucks gemeinsam mit ihrem Mann nach Paris.
1999 erschien die erste jiddische Ausgabe ihres Tagebuchs, gefolgt von einer englischen (2002), einer französischen (2012) und einer russischen (2019). Ihre von Wolf Kaiser veröffentlichten Tagebucheinträge ermöglichen deutschen Lesern, Jedwabs von Sorgen um ihre Angehörigen, aber auch von unbedingtem Bildungs- und Lebenswillen geprägten Schilderungen nachzulesen.
Wie notierte sie doch im November 1942: „Heute muss ich lernen, lesen, mir Wissen aneignen und das Leben beobachten, sodass ich in acht oder neun Monaten unabhängig in die Schlacht gehen kann, die ich gewinnen will. Leben zu lernen ist mehr als aus Büchern lernen. Zuallererst muss man auch vom Leben lernen!“
Tagebucheinträge verbanden auch das voneinander getrennte 17-jährige Liebespaar Barend Spier und Ellis Paraira in den Niederlanden. Beide waren 1942 mit Familienangehörigen untergetaucht. An eine normale Korrespondenz war nicht zu denken, so waren ihre füreinander verfassten Tagebücher Surrogate für den persönlichen Austausch. In seinem letzten Eintrag, dem er die Überschrift „Brief an meinen Liebling“ gab, schrieb Barend Spier: „Ich kann und darf ein solches Tagebuch nicht bei mir führen.
Sterben müssen, nur weil man als Jude geboren wurde
Es ist nicht nur für mich gefährlich, sondern auch für viele andere. Auch wenn ich diese Zeit nicht überlebe, konnte ich doch dafür sorgen, dass Du dann auch dieses Notizbuch in die Hand bekommst. Ein neues Tagebuch, denke ich, kann ich nicht beginnen.“ Ellis Paraira überschrieb ihre Tagebucheinträge mit dem Titel „Erinnerungen an die Zeit, als Du nicht bei mir warst“.
In ihren wechselnden Verstecken von Denunziation und Entdeckung bedroht, vertraute sie ihrem Tagebuch an: „Wir bleiben ganz gelassen und warten auf das Ende … Gott, wie schlimm es ist, zu sterben oder in einem Konzentrationslager zu landen, wenn das einzige Verbrechen, das man in seinem Leben begangen hat, darin bestand, als Jude geboren zu sein!!!“
„Der papierene Freund. Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher“, hrsg. von Wolf Kaiser, 607 Seiten, Metropol Verlag Berlin 2022, 39 Euro
Im Gegensatz zu ihrem Freund wusste Ellis Paraira, was der „Transport“ nach Osten bedeutete: „Ich würde gern nach Polen gehen, um dort zu arbeiten, aber wir dürfen dort überhaupt nicht ARBEITEN! Sie BRINGEN uns dort UM!!! UND ICH WILL NICHT STERBEN!!!“
Während Ellis versteckt überlebte, wurde ihr Freund Barend in Amsterdam aufgespürt und mit seiner Familie über Westerbork nach Auschwitz deportiert und im Alter von 19 Jahren ermordet. Als Ellis im Dezember 1945 heiratete, erhielt sie das zweite Tagebuch ihres ermordeten Freundes. Erst 60 Jahre später erschien es zuerst 2011 in den Niederlanden, 2012 in Israel, wohin sie emigriert war und 2021 starb. Nun endlich können Auszüge dieser berührenden Tagebucheinträge auch auf Deutsch gelesen werden.
Es sind dies nur wenige Beispiele aus der mehr als 600 Seiten umfassenden Sammlung authentischer Tagebücher jüdischer Jugendlicher. Zu Recht weist Wolf Kaiser in seiner sachlichen, zugleich engagierten Einleitung darauf hin, dass der Vielzahl von Video-Interviews mit Überlebenden der deutschen Judenverfolgung nur eine geringe Zahl von Tagebüchern von Menschen gegenüberstehen, die Opfer von Verfolgung und Massenmord an den Juden durch Nationalsozialisten und deren Helfer geworden sind.
Die in Wien geborene, als 11-Jährige zuerst nach Theresienstadt, von dort nach Auschwitz deportierte Ruth Klüger betonte in ihrer Autobiografie „weiter leben“ in Abgrenzung zu den Erfahrungen von Erwachsenen in Auschwitz: „Für ein Kind war das anders.“ Ihr Satz wurde Motto einer Tagung über traumatische Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland und zugleich der Titel eines Buches, das 1999 ebenfalls im Berliner Metropol Verlag erschien.
Wolf Kaisers Buch erweitert nun die Perspektive. Lange bevor Verbände der Heimatvertriebenen nach 1945 ihr lautstarkes Lamento erhoben, war jüdischen Jugendlichen nicht nur die Heimat gestohlen, sondern jede Existenzberechtigung abgesprochen worden. Eine unbeschwerte Kindheit wurde ihnen geraubt.
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