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WM-Finale 1966Erzählungen über Wembley

Das Endspiel um die Fußball-EM lässt in England und in Deutschland die großen Traumata und Mythen aufleben. Und es wird sie verändern.

Drin oder Linie? Ein nationaler Mythos Foto: imago/ZUMA Press/Keystone

W arum hatte, als die Republik vom Tod Uwe Seelers erfuhr, Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg erzählt, erst jüngst habe ihr Team über den Verstorbenen gesprochen? Dass die Na­tio­nal­spie­le­rinnen sich nach dessen Tod austauschten, erscheint nachvollziehbar. Aber zuvor? Warum? Mir scheint nur eine Antwort plausibel zu sein.

Wembley.

WM-Finale ’66. Aus deutscher Sicht der Stoff für eine gewitterte Verschwörung. Das dritte Tor, das eigentlich das fünfte war, das doch gar keins war, sondern Linie, und wo der sowjetische Linienrichter Tofiq Bahramov dem Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst bedeutete, dieser Schuss von Geoff Hurst in der Verlängerung an die Unterkante der Latte, von der der Ball nach unten prallte, habe zu einem regulären Treffer geführt. Darauf hätten die deutschen Spieler, allen voran Uwe Seeler, resigniert noch einen vierten Gegentreffer hingenommen. So die Erzählung.

Wembley-Tor ist der hiesige Fachausdruck dafür, und das ist ein Begriff wie Schadenfreude oder Waldsterben, nicht ins Englische zu übersetzen. Engländer sehen keinen Grund, sich diesen Treffer, der ein gültiges Tor, heute noch zu analysieren. Hurst, der schon das erste Tor für England geschossen hatte, traf halt zum dritten. Und den vierten erzielte er doch auch, didn’t he?

Für Ende des Traumas gesorgt

Aber Wembley ’66 hat für den englischen Fußball sehr wohl eine mythische Bedeutung. 1966 erkämpften die Three ­Lions dort den einzigen Titel ihrer Geschichte, die doch schon 1872 begonnen hat. Wembley ’66 hat das Trauma beendet, aber seither gibt es ein neues Trauma, das sich in immer wieder neuen Erscheinungsformen präsentiert, mal als Elfmeter-Trauma, mal als Deutschland-Trauma und vor allem als das Trauma des fehlenden Titels.

Seit 1966 hatte es bestenfalls Siege in Testspielen gegeben, aber wenn es drauf ankam, gewann Deutschland, gern im Elfmeterschießen. Gary Lineker, früherer englischer Nationalstürmer, hat es in einer oft zitierten Weisheit so ausgedrückt: „Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer jagen 90 Minuten lang hinter einem Ball her, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“ Doch im vergangenen Sommer, EM 2021, hat sich, so hieß es, England sich von seinem Deutschland-Trauma befreit: 2:0 im Achtelfinale der Männer-EM. Wo? In Wembley.

Nun könnte die englische Erzählung zu ihrem Ende kommen: Ein Finalsieg der Engländerinnen in Wembley wäre nicht nur der Beleg, dass die Männer das Deutschland-Trauma überwunden haben. Es wäre zugleich das Ende des Titeltraumas.

Und die deutsche Erzählung? Die Tortechnologie macht ein neues Wembley-Tor unwahrscheinlich. Aber vielleicht gibt es ja Elfmeterschießen. Und vielleicht auch Gerechtigkeit für Uwe.

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Martin Krauss
Jahrgang 1964, freier Mitarbeiter des taz-Sports seit 1989
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