Öffentliche Debatten seit Corona: Macht durch Empörung
Erst Corona, dann Ukrainekrieg: Die Diskurs-Nerven liegen blank. Auf der Strecke bleiben die wichtigen Fragen.
M anchmal haben die Leute das Bedürfnis, „unpopular opinions“ rauszuhauen. Das steht immer wieder bei Twitter unter Takes, die ihre Verfasser wohl für das Gegenteil der Mainstream-Meinung halten, die sie sich zusammenhalluziniert haben. Ernten sie viele Likes dafür, wird das nicht als Widerspruch gesehen.
Nach zwei Jahren Pandemie und einigen Monaten, die ich, wie alle, völlig unvorhersehbar im Lockdown verbracht habe (ich weiß, man darf nicht Lockdown sagen, man muss sagen Ausgehbeschränkungen oder teilweiser Freiheitsentzug sagen und vor allem sagen: anderswo war es viel schlimmer, also viel mehr Lockdown), ist die Empörungswelt der sozialen Medien in meinem Leben unerwartet wichtig geworden.
Während alle Kulturhäuser zu hatten, saßen alle vor ihren Geräten und stießen irgendetwas ab. Von Zwitschern kann keine Rede sein. Ich habe mich also daran gewöhnt, dass man nichts, wirklich nichts sagen kann, ohne Empörung zu ernten von irgendwoher, und dass es einen Punkt gibt, ab dem Twitter seine Nutzer zu Zombies macht.
Alle sind erschöpft
Wie fast alle bin auch ich erschöpft von den vergangenen zwei Jahren. Von der Erfahrung einer Pandemie, von der Erschütterung, die sie für das Grundvertrauen bedeutet. Ich habe nicht erwartet, je in eine Situation zu geraten, in der demokratische Staaten meinen, so massiv in den Alltag ihrer Bürger eingreifen zu müssen, in der die alltäglichsten Handlungen plötzlich lebensbedrohlich sein können, so sehr, dass fast jegliches Zusammenleben zum Stillstand kommt.
Ich stehe, wie viele, mit einem letzten Funken Empathie in dieser Erschöpfung, hilflos vor einem Krieg, bei dem es mir so vorkommt, als ob das einzig Richtige wäre, die Angegriffenen zu schützen – aber selbst das ist keine Eindeutigkeit in diesen Zeiten. Im Hintergrund das ständige Rauschen der Klimakatastrophe; man hat sich daran gewöhnt, das Reden über das Klima, das alles läuft so mit, als hätte man ein altes Küchenradio eingeschaltet. Und unter der Frequenz ist ein permanentes Rauschen. Es stört, aber die Welt ist wohl nicht ohne zu haben, und niemand tut etwas dagegen, man hört einfach mit Störton weiter.
Aus dieser Erschöpfung finden viele nur noch über eine Empörungsdynamik heraus. Es scheint ein leichtes Mittel zu sein gegen die empfundene Machtlosigkeit über den Lauf der Dinge. Ich habe inzwischen den Eindruck, es ist das Letzte, was viele meinen überhaupt noch tun können: „Nein, so nicht!“ schreien. Das digitale Ich kann das notfalls nebenher erledigen. Man muss also seinen Arsch nicht einmal vom Sofa kriegen oder kann nebenher seinem Job nachgehen, mit dem man die überteuerten Mieten bezahlen muss.
Meine Hilflosigkeit über den Krieg in der Ukraine und seinen bisherigen Verlauf sollte ich nun, wenn ich der digitalen Masse folge, durch Empörung über Leute wie Ulrike Guérot sublimieren. Es reicht nicht, dass ich sage, die Frau redet einen Mist. Nein, man muss dann schon die ganz große Oper spielen: Warum sitzt die bei Lanz? (Ulrike Guérot plädierte für einen Waffenstillstand und Verhandlungen mit Russland, d. Red.) Was qualifiziert sie? Was macht die an der Uni Bonn? Während man sich so von Sekunde zu Sekunde hochempört, weiß jeder, sie wird mit ihren Thesen mehr und mehr Menschen erreichen.
Leichtes Knöpfedrücken
Warum sollte es nicht legitim sein, eine empathielose, wenig fundierte Meinung in einer Talkshow abzubilden – zumal solche Meinungen auf der anderen Seite des Fernsehers zuhauf vertreten sein werden? Warum dieses permanente: Die darf nicht mehr öffentlich dies und das tun? Reicht es nicht, dass sie bereit ist, sich selbst bloßzustellen? Vertraut man so wenig in die Gegenrede der anderen, die Positionen vertreten, die man selbst für begründet hält? Warum gönnt man gerade jenen Pundits, die es sich so leicht machen mit dem Knöpfedrücken, ständig die Märtyrerrolle?
Wir wissen alle, dass sich Nutzer im Netz ihre Inhalte zusammensuchen, wenn sie die Meinungen, die sie hören möchten, in den öffentlich-rechtlichen Kanälen nicht wiederfinden. Sie würden sich eben im Netz Kanäle suchen, auf denen Frau Guérot redet, ihr aber niemand mehr widerspricht. Warum nicht eine Runde Mitleid spenden, dass jemand sich bloßstellt, wie kurzsichtig er die Lage einschätzt, statt ihm so viel Macht durch Empörung zuzugestehen?
Wann fangen wir damit an, uns zu fragen, in welcher Verfassung sich die meisten nach zwei Jahren Corona befinden? Die Pandemie – neben der Tatsache, dass sie noch nicht vorbei ist – war eine Erfahrung, die für viele das Grundvertrauen in das So-Sein der Welt erschüttert hat.
Mit einem Schlag war alles außerhalb der eigenen vier Wände eine mögliche Bedrohung. Der Staat musste plötzlich massiv eingreifen, aber wie weit darf der Staat gehen, wenn er aus guten Gründen handelt? Bei allem Reden über Verschwörungsmythen fehlten mir die Analysen, wie man die Verunsicherungen der vielen auffangen will, wenn man noch nicht einmal für jene, die psychisch erkrankt sind, genug Therapieplätze hat.
Gute und schlechte Experten
Wir haben zwei Jahre lang in Talkshows fast nur Experten gehört, Wissenschaftler, die etwas über die Pandemie und ihren möglichen Verlauf sagen konnten. In welcher geistigen und, ja, seelischen Verfassung sich viele Bürger befinden, das war und ist selten Thema. Wie man den Kopf klärt bei all den Belastungen. Und wie man mit den Zweifeln lebt, dass auch Wissenschaftler irren, obwohl sie, während sie Vorschläge machen, sehr überzeugt von der Richtigkeit ihrer Ansätze sind.
Es gab mal eine Zeit, da kritisierten viele Linke die Tendenz zur Expertokratie. Jetzt tun viele so, als ließen sich die Probleme dieser Welt nur lösen, indem wir die guten Experten reden lassen und zwar ausschließlich sie. Die schlechten Experten werden weggeschrien. Und alle, die keine Experten für irgendetwas sind, kommen gar nicht mehr zum Zug.
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