„Ride of Silence“ des ADFC: Fahrt zu den Geisterrädern
Mehrere hundert Radfahrende erinnern mit einem Fahrradkorso an getötete RadlerInnen – und fordern mehr Engagement von der Politik.
Der Mann im weißen T-Shirt sucht in den Tiefen seines Lastenrads. „Sind leider nur noch kleine Größen übrig“, teilt er einer älteren Frau bedauernd mit. Was er da gegen eine Spende von 10 Euro abgibt, sind weiße T-Shirts wie das, das er selbst trägt – genau genommen tragen es die meisten der mehreren hundert RadfahrerInnen, die sich am Mittwochabend vor dem Roten Rathaus versammeln. Darauf zu sehen ist das Logo der Demonstration, die der Berliner ADFC jedes Jahr um diese Zeit anmeldet: „Ride of Silence – Gedenken an verunglückte Radfahrende“.
Als sich der Korso in Bewegung setzt, mögen es 300 oder 400 TeilnehmerInnen sein, die erst zum Alexanderplatz, dann zum Volkspark Friedrichshain rollen. Im Gegensatz zu sonstigen Fahrraddemos, bei denen sich alle Mühe geben, die Geräuscharmut ihres Fortbewegungsmittels durch anhaltendes Klingeln zu kompensieren, geht es diesmal sehr ruhig zu, die meisten fahren schweigend.
Nur an bestimmten Stellen fangen alle an zu klingeln: Dann passiert der Ride of Silence gerade einen Punkt, an dem in den vergangenen Jahren ein Mensch auf dem Fahrrad ums Leben gekommen ist, in vielen Fällen von einem abbiegenden Lkw überrollt wurde. Um die Orte zu signalisieren, stellt der ADFC dort schon seit Jahren weiß angemalte Fahrräder – „Geisterräder“ – auf, die immer bis zum Totensonntag stehen bleiben.
Stumme Mahnung
Neben diese Räder, aber auch an Stellen, wo sich die tödlichen Unfälle schon vor längerer Zeit ereignet haben, platzieren sich bei der Demo ADFC-Ehrenamtliche mit einem kleinen Schild, auf dem das Alter der Toten und das Datum des Unfalls stehen. Zehn „Geisterräder“ kamen im Jahr 2021 hinzu, in den Jahren zuvor waren es mal mehr (2020: 18 getötete Radfahrende), mal weniger (2019: 6 Fälle).
Seit 2018 gilt das Mobilitätsgesetz, in das die „Vision Zero“ eingeschrieben ist: das Ziel, Toten und Schwerverletzte im Straßenverkehr perspektivisch auf Null zu reduzieren. Dass das so schnell nicht gehen wird, weiß der ADFC natürlich. Er warnt auch davor, bei jedem Ausschlag der Kurve nach oben – wie zwischen 2019 und 2020 – der Politik Totalversagen vorzuwerfen: „So einfach ist es nicht“, heißt es auf der Website des Vereins. Schließlich habe der Radverkehr in diesem Intervall um fast 14 Prozent zugenommen, die Zahl der Unfälle mit Radfahrenden-Beteiligung dagegen nur um 0,2 Prozent und die Zahl der Schwerverletzten um 2,7 Prozent.
Trotzdem ist jede Tote und jeder Verletzte eineR zu viel, daran erinnern zwei RednerInnen bei einer Zwischenkundgebung auf der Karl-Marx-Allee – wo der Korso mittlerweile nach einem Schlenker zur Holzmarktstraße und zurück über die Warschauer Straße angekommen ist. Der Ort: eine mit gelben Linien vorläufig gekennzeichnete Fahrradspur auf Höhe des U-Bahnhofs Samariterstraße. Hier kam vor fast genau einem Jahr eine junge Künstlerin ums Leben, die einem auf der Spur parkenden Geldtransporter auswich und von einem Lastwagen erfasst wurde.
„Das darf nicht sein!“
Bis heute habe keine Verhandlung zu diesem Fall stattgefunden, sagt SuSanne Grittner, stellvertretende ADFC-Landesvorsitzende. Sie hebt lobend hervor, dass die Unfallkommission sich schnell die Örtlichkeit angesehen habe, obwohl das Mobilitätsgesetz dies nominell nur nach schweren Unfällen an Kreuzungen vorschreibt. Auch habe die Verkehrsverwaltung zügig reagiert und die unübersichtliche Verschwenkung des alten Hochbordradwegs auf die neue Radspur korrigiert. Aber ohne Kontrolldruck gehe es nicht: „Ein paar Tage später wurde hier schon wieder auf der Spur geparkt“, sagt Grittner, „das darf nicht sein!“
Anschließend geht es weiter über Prenzlauer Berg, Wedding und Mitte bis zum Brandenburger Tor, wo die Abschlusskundgebung stattfinden soll. Auch oder gerade als weitgehend stumme Geste hinterlässt der Ride of Silence Eindruck bei vielen PassantInnen, die die Demonstration fotografieren oder filmen.
Flankiert wird der Korso von einer Einheit der Fahrradstaffel der Polizei. Die BeamtInnen achten darauf, dass der Korso auch auf breiten und für den restlichen Verkehr gesperrten Straßen nicht die Spuren in der Gegenrichtung benutzt (ist Vorschrift, erklärt einer auf Nachfrage), sie stoppen aber auch manch einen angetrunkenen Fußgänger, der die Fahrbahn queren will, oder verscheuchen Mopedfahrende, die sich eben mal in den Korso einreihen, um nicht warten zu müssen.
„Gibt halt so’ne und solche Polizisten“, sagt ein Mitfahrer anerkennend zu seinem Nebenmann. Und manch einer ist offenbar stolz auf die eigene Disziplin: „Ist doch auch mal nett, mit normalen Leuten unterwegs zu sein, wa?“, ruft er einer Polizistin mit blondem Pferdeschwanz zu, als die ihn überholt. Sie nickt.
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