Jewish Welcome Service Wien: Versöhnung mit Wien
Der Jewish Welcome Service ließ sich in Wien auch durch Attentate nicht aufhalten. Heute ist er eine wichtige Institution.
Mein ergreifendster Moment der Woche war der Besuch der Synagoge am Freitagabend“, schreibt Shai Margalit über seine Wien-Reise: „Es ist nicht nur die schönste Synagoge, die ich je besucht habe, es ist auch der Ort, wo meine Großeltern vor mehr als 80 Jahren heirateten. Ich saß da und versuchte mir mit Tränen in den Augen diese Hochzeit vorzustellen.“
Der 34-jährige Israeli lernte die Heimatstadt seiner Großeltern im Rahmen der Vienna Trips für junge Erwachsene im vergangenen Oktober kennen. Diese Reisen in die Stadt der Vorfahren werden vom Jewish Welcome Service (JWS) organisiert, der anlässlich seines 40-jährigen Bestehens eine Dokumentation herausgebracht hat, die dieses Frühjahr in alle Welt verschickt wird.
Das Büro des Jewish Welcome Service in Wien ist in einer Dependance des Jüdischen Museums untergebracht. Dort hat man Zugang zu den unterirdischen Resten der alten gotischen Synagoge. Adresse: Judenplatz 8.
Mitten auf dem Platz steht das Holocaust-Denkmal der britischen Künstlerin Rachel Whiteread. An einer Hauswand gegenüber erinnert eine Plakette an die große Gesera, die gezielte Ermordung und Vertreibung von Juden unter Herzog Albrecht V. im Jahre 1421.
65.000 wurden ermordet
Zwischen 1938 und 1945 wurden rund 65.000 jüdische Menschen aus Wien ermordet, etwa 120.000 konnten – zumeist unter Zurücklassung ihres Besitzes – noch fliehen. Die Wiener Bevölkerung tat sich durch besondere Perfidie bei der Verfolgung ihrer über Nacht zum Freiwild gewordenen Nachbarn hervor.
Holocaust und Vertreibung prägen die Erinnerung der Überlebenden und von deren Nachkommen. „Ich wollte die Juden mit einer Stadt versöhnen, die die Schatten ihrer Vergangenheit überwunden hat“, so der Leitspruch von Leon Zelman, der im Dezember 1980 gemeinsam mit Wiens Bürgermeister Leopold Gratz und Stadtrat Heinz Nittel (beide SPÖ) das Jewish Welcome Service gründete.
Eine Organisation, deren Name schon vieles ausdrückt: Juden sollen in Wien wieder willkommen sein. Wer die österreichische Nachkriegsgeschichte kennt, weiß, dass dies überhaupt keine Selbstverständlichkeit war.
Zelman, 1928 in Polen geboren, überlebte als Jugendlicher das KZ Auschwitz. Er fand eine zweite Heimat in Österreich, wo er die Befreiung im Mai 1945 im KZ Mauthausen-Ebensee erlebte. Seine gesamte Familie wurde in der Shoah von den Nazis ausgerottet.
Besuche der Überlebenden
Nach dem Studium der Zeitungswissenschaften leitete er im Österreichischen Verkehrsbüro die Israel-Abteilung. Bald hatte er die Idee, Vertriebene und Überlebende nach Wien einzuladen. Sowohl in Israel als auch in den USA war er immer wieder angesprochen worden, ob er solche Besuche nicht organisieren könne.
Wenige Wochen nachdem der Jewish Welcome Service seine Tätigkeit aufgenommen hatte, fiel mit Stadtrat Nittel einer der Mitbegründer einem Mordanschlag zum Opfer. Nittel war auch Generalsekretär der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft. Das Attentat auf Nittel am 1. Mai 1981 ging auf das Konto der palästinensischen Terrorgruppe Abu-Nidals. Die Abu-Nidal-Gruppe konkurrierte wie die PFLP, DFLP, Carlos-Gruppe mit PLO und Fatah um die Vorherrschaft innerhalb der völkisch radikalisierten palästinensischen Terrorszene.
Unterstützt von arabischen Diktaturstaaten verübte sie weltweit Anschläge gegen „zionistische Ziele“. Nach dem Attentat auf Stadtrat Nittel überfielen palästinensische Extremisten in Wien am 29. August 1981 die Synagoge in der Seitenstettengasse. Sie warfen eine Handgranate und schossen mit Maschinenpistolen um sich. Zwei Menschen starben, zwanzig wurden verletzt.
JWS-Generalsekretärin Susanne Trauneck, die seit den späten 1990er Jahren bis zu dessen Tod 2007 mit Leon Zelman zusammenarbeitete, betont den direkten Zusammenhang mit Nittels Engagement für die Versöhnung mit den Holocaust-Überlebenden und dessen Ermordung 1981.
Abu-Nidal-Überfall
Doch auch der blutige Überfall der Abu-Nidal-Terrorgruppe auf den Wiener Stadttempel vom August 1981 konnte nicht verhindern, dass die ersten Gruppen von vertriebenen Wienerinnen und Wienern ihre frühere Heimatstadt über den Jewish Welcome Service besuchten. Eine Woche lang waren sie Gäste der Stadt Wien und des JWS. Seither sind über 4.000 vertriebene Wiener Juden und deren Nachkommen über den JWS eingeladen worden. Die Reisen finden meist zweimal pro Jahr statt: im Frühjahr und im Herbst, zuletzt Mitte Mai dieses Jahres.
Fixpunkte sind dabei Empfänge mit Wiener Mehlspeisen im Rathaus, und wenn immer möglich auch beim Bundespräsidenten. An einer JWS-Reise nahm auch Erika Fox teil. Die 1939 noch als Kleinkind mit ihrer Mutter nach England Geflüchtete, erinnert sich besonders an die engagierte Ansprache eines jungen Stadtrats.
Andere Redner kamen ihr dagegen eher sehr formal vor. „Sie sagten das, was sie sagen mussten, aber er las nicht vom Blatt, sondern was er sagte, kam absolut vom Herzen.“ „Ich war ehrlich gerührt“, sagt die 85-jährige Musikerin, die in London telefonisch für diesen Artikel zu erreichen war.
Abweisende Reaktion
Enttäuschend sei hingegen Jahrzehnte vorher eine Begegnung mit den Leuten ausgefallen, die damals in der Wohnung ihrer Eltern lebten. Erika Fox hatte mit ihrem in Berlin geborenen Mann erstmals wieder Wiener Boden betreten und suchte ihre alte Adresse im 20. Bezirk auf: „Als ich meinen Namen nannte, taten sie, als wüssten sie von nichts und waren sehr abweisend.“
Das JWS hilft auch bei der Spurensuche im Archiv der jüdischen Gemeinde oder beim Auffinden von Gräbern. Früher gab es auch Beratungen für das Stellen von Pensionsansprüchen und das Wiedererlangen der österreichischen Staatsbürgerschaft. Erst seit wenigen Jahren sind die gesetzlichen Verfahren dazu in Österreich erleichtert und die Rechte der Nazi-Opfer gestärkt worden.
Besonders aktiv bei der Sozialberatung war auch der Auschwitz-Überlebende Leo Luster. Er konnte 1940 mit seiner Schwester Helene nach Palästina fliehen. Sein 1959 in Israel geborener Sohn Moshe, der in Tel Aviv telefonisch kontaktiert werden konnte, reiste immer wieder mit seinem 2017 verstorbenen Vater nach Wien. 1998 besuchte er mit ihm auch Prag und das ehemalige Ghetto und KZ Theresienstadt in Böhmen. Dort war auch seine Großmutter interniert gewesen.
Moshe Luster war zunächst mit eher gemischten Gefühlen nach Wien gekommen: „Mein Vater hat über diese Zeit nicht viel erzählt.“ Aber nun hat Luster selber Freunde hier gefunden – nicht nur jüdische, wie er betont – und kommt immer wieder nach Wien, zuletzt zusammen mit seiner Schwester.
Auch mal zum Heurigen
Der Aufenthalt in Wien will den Gästen zeigen, dass jüdisches Leben in Wien heute nicht nur möglich ist, sondern auch tatsächlich stattfindet. Aber viele hätten auch ganz profane Wünsche, sagt Susanne Trauneck. „Wer nicht streng koscher lebt, will vielleicht einfach nur zum Heurigen.“ Oder hat die alten Wiener Lieder im Kopf, die ihnen die Eltern vorgesungen haben.
Am meisten Interesse am Programm des JWS gibt es aus Israel, Großbritannien und den USA. Aber auch aus der jüdischen Diaspora in Südamerika hätten schon Interessenten teilgenommen. Mit dem Holocaust Education Center in Toronto haben die Wiener zudem eine Kooperation für Studienreisen junger Erwachsener aufgebaut. In den USA ist das American Jewish Committee der wichtigste Ansprechpartner.
Wegen Corona mussten vor zwei Jahren die öffentlichen Feierlichkeiten zum 40. Gründungsjubiläum des Jewish Welcome Service abgesagt werden, so Trauneck. Eine 80-seitige Publikation und eine Fernsehdokumentation, abrufbar über die Website der Organisation, müssen darüber hinweghelfen. Das JWS vergibt den Leon-Zelman-Preis und versucht durch Bildungsarbeit Jugendliche zu sensibilisieren und auch in Schulen und Clubs zu erreichen.
Die Komponistin Erika Fox hat zwar kein Interesse, sich wieder in ihrer Geburtsstadt niederzulassen. Doch nahm im Laufe der Jahre auch der Groll gegen Wien ab. „Die jungen Leute tragen ja keine Schuld,“ sagt sie. Ihr Mann, der in Berlin als Kind die sogenannte Reichskristallnacht miterlebte, in der auch die Bäckerei seiner Eltern verwüstet wurde, habe übrigens zeit seines Lebens von seiner deutschen Heimatstadt keine vergleichbare Einladung erhalten.
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