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Russland und der UkrainekriegVier Stunden bis zur Hölle

Mit dem Schnellzug braucht man von Moskau nach Charkiw genauso lange wie nach St. Petersburg. Doch die Menschen in Russland verdrängen den Krieg.

Blutige Spuren in Charkiw nach einem russischen Angriff, 25. April 2022 Foto: Ricardo Moraes/reuters

Wenn Sie mal eine Pause brauchen vom geschäftigen Leben in der frühlingshaften Hauptstadt, dem vor Leben sprudelnden Viertel rund um die Patriarchenteiche, von den Moskauer Theatern – überall ist es rappelvoll und die Preise! Exorbitant –, von den überfüllten Einkaufszentren und den ewigen Staus – dann nehmen Sie den Schnellzug „Sapsan“ und kommen ins kühle, sonnige St. Petersburg.

Sie können hier die Uferstraßen entlangschlendern, die Nase in die kühle Meeresbrise halten, eine kleine Tour durch die – so scheint es – weltberühmte Petersburger Gastroszene oder die fröhlichen lokalen Kneipen unternehmen.

Man könnte denken, dass St. Petersburg weit weg sei, dabei ist die Stadt ganz nah, wenig mehr als 700 Kilometer von Moskau entfernt. Nur vier Stunden mit dem Schnellzug – schon spürt man ganz andere Vibes.

Und wenn die „Sapsan-Züge“ nicht vom Leningrader Bahnhof nach Norden abführen, sondern nach Süden, vom Kiewer Bahnhof, dann wären Moskauer in vier Stunden in Charkiw. Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Junge einmal durch Charkiw weiter in den Süden gefahren bin, damals mit einem ganz gewöhnlichen Zug. In Charkiw hatten wir eine Stunde Aufenthalt. Alle auf dem Bahnsteig sprachen Russisch, wir kauften Kartoffelpiroggen, Sonnenblumenkerne und Salzgurken. Daran erinnere ich mich aus irgendeinem Grund bis heute.

Novaya Gazeta Europe in der taz

Am 9. Mai 2022 jährt sich zum 77. Mal der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ über Nazi-Deutschland. Diesen Tag beging schon die Sowjetunion, und Russland feiert das Kriegsende heutzutage mit einer großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Doch was hat der Kreml in diesem Jahr zu feiern? Seit 24. Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Kampf tobt aber auch an der Heimatfront: Opfer sind vor allem die unabhängigen Medien, die versuchen der staatlichen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Mit allen Mitteln wird versucht diese Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Auch eine der letzten Bastionen des unabhängigen Journalismus, die Novaya Gazeta, ist von diesen Repressionen betroffen. Das Team der Novaya Gazeta Europe hat das Land verlassen, um die Arbeit fortsetzen zu können und denjenigen eine Stimme zu geben, die den Krieg niemals akzeptieren und nie unterstützen werden.

Angesichts von Zerstörung, Flucht, Elend, Tod und wachsendem Hass braucht es ein Zeichen der Solidarität. Auf Initiative der taz Panter Stiftung bringen wir zum Jahrestag Texte der Novaya Gazeta Europe heraus auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch. Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Alle Texte erscheinen in der taz vom 9. Mai 2022 und online hier.

Jetzt würde der Zug Moskau–Charkiw direkt in die Unterwelt fahren. In eine Stadt, in der russische Bombardements und Beschuss zweitausend Häuser zerstört haben. Wohnblöcke, Schulen, Krankenhäuser. In eine Stadt, aus der bislang ein Drittel der Einwohner geflohen ist, während sich die übrigen stur an die Trümmer ihres alten Lebens klammern und jeden Tag Gefahr laufen, von Splittern russischer Raketen und Granaten getötet zu werden. In eine Stadt, die von einem erbarmungslosen Feind belagert wird, der schon in Butscha und Irpin gezeigt hat, wozu er in der Lage ist.

Ja, wer ist denn dieser Feind?

Ein erbarmungsloser Feind? Ja, wer ist denn dieser Feind? Sind das nicht genau die Leute, die an den Patriarchenteichen entlangbummeln, die in Moskauer Einkaufszentren shoppen und im hauptstädtischen Stau feststecken, während sie davon träumen, schnell wieder nach Hause zu ihrer Familie zu kommen?

Diese Menschen sind doch ganz normale Leute, sie können doch anderen, die genau so sind wie sie, in den gleichen Plattenbauten leben, die die gleiche Sprache sprechen, nicht den Tod wünschen? Wie ist das möglich? Das können sie einfach nicht. Diese Menschen haben nichts verbrochen, und sie schießen auf niemanden. Was also tun sie?

Sie tun so, also ob gar nichts passiert. Sie versuchen, nicht über das zu sprechen, was sich dort – nur vier Stunden Fahrt mit dem Höllen-Schnellzug entfernt – ereignet.

Glücklicherweise ist die Kanonade aus Charkiw in Moskau nicht zu hören, und wie lange man aus der russischen Hauptstadt nach Mariupol braucht, weiß der Teufel. Das interessiert doch auch keinen, wo liegt das überhaupt? Wenn man im Internet „Entfernung von Moskau nach Ma…“ eingibt, kommt als erstes Ergebnis die Malediven.

Also verrate ich es Ihnen: mit dem Auto braucht man von Moskau nach Mariupol 15 Stunden. 15 Stunden am Steuer, um von den ausverkauften Moskauer Theatern zu dem Theater mit der Aufschrift „Kinder“ zu kommen, das von russischen Kampfflugzeugen kaputtgebombt wurde. Bis zu der zerstörten Geburtsklinik. Bis „Asowstal“, das standhält wie die Festung Brest.

Kann man sich dem entziehen? Ach komm, lass uns einfach nicht darüber sprechen, nicht über den Krieg, lass uns das Wort „Krieg“ einfach nicht aussprechen, weil: das ist doch alles gar nicht so eindeutig. Lass uns lieber tanzen gehen, ins Restaurant, ins Theater oder einfach in irgendein kleines Kino im Einkaufszentrum. Lass uns so tun, als ginge das Leben seinen gewohnten Gang, als sei alles wie immer.

Ja, okay, es gibt da diese „Spezialoperation“, das sind irgendwelche Asow-Nazis, hol sie der Teufel, das ist irgendwo anders, auf jeden Fall nicht bei uns. Und hier ist übrigens auch nicht alles so toll: Apple Pay wurde abgeschaltet, McDonald’s haben sie zugemacht, sie denken, dass sie uns so aushungern. Aber wir gehen trotzdem aus und haben Spaß! In Moskau und Petersburg sieht es ganz normal aus, dort gibt es ganz normales Leben, fast so ein Leben wie früher.

Eine Blase. In der Blase: ein Teller mit Salat oder Kohlsuppe, eine Theaterbühne, eine Kinoleinwand, der Weg zur Arbeit, der Weg nach Hause. Und das, was außerhalb dieser Blase ist, also das, woraus der Rest der Welt besteht, die vor Blut und Eiter brodelt, das ignorieren wir einfach. Nur leider existiert es trotzdem. Ja, es hat die Plazenta noch nicht durchbrochen, hat noch kein Blut und keinen Eiter in das Leben eines jeden Einzelnen unserer Leute fließen lassen, aber der Druck von außen wird stärker und er steigt auch innerhalb der Blase.

Nicht einen Zentimeter

Russische Züge fahren nicht nach Charkiw. Sie fahren auch nicht nach Mykolajiw, nach Odessa oder nach Kramatorsk. Nicht nach Butscha oder Donezk. Die Ukraine ist von echten, lebenden Menschen bevölkert, die die russische Armee jeden Tag grundlos tötet, einfach so, ohne Anlass, sicher abgeschnitten von der Kommunikation mit Russland. Wir schauen auf den Teller, wir heben bitte auf keinen Fall den Blick. Nicht einen Zentimeter.

Und dennoch finden im Namen Russlands jeden Tag unter falschen, täglich wechselnden Vorwänden, Morde und Zerstörungen statt.

Und trotz allem erfahren auch die Menschen innerhalb der Blase von all dem. Leichengeruch dringt hindurch, die Plazenta kann nicht alles filtern. Und noch schrecklicher: Dieser Geruch wird Teil der Normalität, die Tötungen friedlicher Menschen, die die gleichen Vornamen und Familiennamen wie sie haben, wird Teil der Norm. Es wird zur Norm, dies zwar zu bemerken, aber nicht darüber zu sprechen. Und wenn man doch darüber spricht, dann mit der vom Staat bereitgestellten Blaupause und vorsätzlichen Lügen. Die biblischen Verbote werden aufgehoben, prähistorische Tabus werden geändert, bei Kannibalismus wird nach Rechtfertigungen gesucht.

Man darf nicht glauben, dass die neue Normalität der alten ähnelt. Das Gift ist bereits in Körper und Seele eingedrungen, es wirkt nur noch nicht.

Wir weigern uns daran zu denken, dass der Zug aus Moskau nur vier Stunden in die Hölle braucht, und wir wollen ja auch gar nicht das frühlingshafte Moskau Richtung Hölle verlassen. Aber die Schnellstraße dorthin ist schon gebaut. Und die Hölle rauscht uns jetzt darauf entgegen.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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1 Kommentar

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  • Woooow.

    Zu den exorbitanten Preisen ein Witz aus der späten Jelzin- und frühen Putinzeit:

    2 Oligarchen treffen sich beim Flanieren in Moskau, der eine trägt eine unglaublich hässliche Krawatte.



    "Was hast du denn dafür bezahlt?!"



    "Satte 20.000 Rubel, aber hey, man gönnt sich ja sonst nichts!"



    "Ja bist du denn völlig bescheuert!?"



    "Wieso, ist doch ein guter Preis???"



    "Guter Preis suka blyad! Beschissen haben die dich! Exakt dieselbe Krawatte habe ich mir gerade für 50.000 Rubel gekauft!"