Der Tag der Arbeit und seine Rituale: Kämpferisch wie immer
Der 1. Mai wird in Berlin nicht durch Gewerkschaftsdemos bestimmt, sondern durch den Protest der autonomen und radikalen Linken. Über einen Mythos.
D ie endgültige Demütigung für die Revolutionäre folgte am Tag danach. Anders als seit Jahrzehnten gewohnt, verzichteten an diesem 2. Mai 2018 Berlins Innensenator und die Polizeiführung auf ihre Bilanz-Pressekonferenz. Statt mehr als 20.000 wie noch wenige Jahre zuvor hatten sich nur noch 6.000 Menschen der linksradikalen Revolutionären 1.-Mai-Demonstration angeschlossen, die von einem Schwarzen Blöckchen aus wenigen Dutzend Vermummten angeführt wurde. Der laut- und kraftlose Zug hatte sich nur mühsam seinen Weg durch Kreuzberg 36 gebahnt, das von Zehntausenden Partytourist:innen vollkommen in Beschlag genommen war, ehe er sich in Bedeutungslosigkeit aufgelöst hatte. Der Tag markierte einen Tiefpunkt in der Tradition des Revolutionären 1. Mai in Berlin.
Bis dahin war der 2. Mai stets der Tag gewesen, an dem die Sicherheitsbehörden in einem überfüllten Pressesaal vor deutlich mehr als der sonst üblichen RBB-Kamera ihre Auswertung des Tages der Arbeit darlegten, der in Berlin längst nicht mehr durch die Gewerkschaftsdemo besetzt oder bestimmt ist, sondern durch den Protest der autonomen und radikalen Linken. Sie präsentierten dann die Parameter, anhand derer Erfolg und Misserfolg des Kampftages und der polizeilichen Gegenstrategie gemessen wird und die darüber entschieden, welcher Druck danach auf dem Innensenator wirkte: die Anzahl der Festgenommenen und jene der verletzten Beamten. An diesem 2. Mai 2018 kamen die Zahlen stupide per Pressemitteilung. 20 leicht verletzte Polizist:innen und 103 Festnahmen waren keine Aufregung mehr wert. In anderen, früheren Jahren lagen sie zuweilen um ein Vielfaches höher.
Die Polizei hatte die Demo nur aus der Ferne beobachtet und damit zur Bedeutungslosigkeit deeskaliert. Die verbliebenen Linken, denen der Krawall lieb gewesen wäre, hatten weder selbst die Kraft noch die Rückendeckung, um auch nur symbolisch an die Tradition des Kreuzberger 1.-Mai-Aufstands anzuschließen. Die Zeit klassischer anarchistischer Autonomer, wie sie im Zuge der Hausbesetzerbewegung der 1980er Jahre aufgekommen waren und die Militanz als strategisch bedeutenden Teil ihrer Politik begriffen, ist vorbei. Der Polizeisprecher freute sich über einen „super Tag“, der Innensenator triumphierte: „Die Normalität in Berlin ist nicht Randale.“
Yallah Klassenkampf!
In einer Auswertung auf dem linksradikalen Portal Lower Class Magazin schoss man sich auf das bezirklich organisierte MyFest ein – 2003 als Idee entstanden, um Kreuzberg zu befrieden –, das die Gegend rund um die Oranienstraße in eine riesige Feiermeile verwandelt hatte. Ergo: „Man fühlt sich wie im Zoo.“ Etwas sehnsüchtig verwiesen wurde auf den für seine Sprühereien auf Sperrmüll und Straßenmöbel bekannten Graffitikünstler „Sozi 36“, dessen Mahnung auf einer Holzplatte resonanzlos verhallt war: „Schmeißt Steine, nicht Pillen.“ Als Ausweg sah man das Ausweichen ins Reichenviertel Grunewald, wo 2018 erstmals – und seitdem immer – eine hedonistische Parade für Umverteilung stattfand.
Vier Jahre später gibt es die Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration, bekannt auch einfach als 18-Uhr-Demo, immer noch, auch in ihren angestammten Kiezen, und das Klagen über ihren Niedergang ist einstweilen verstummt. Der Aufruf für die Manifestation, die wieder von Neukölln noch Kreuzberg führen soll, ist inhaltlich kämpferisch wie eh und je: „Yallah Klassenkampf – No war but classwar!“
Im vergangenen Jahr konnte diese größte institutionalisierte linksradikale Demo des Landes mit 20.000 Teilnehmer:innen fast wieder an die Rekordbeteiligung von 2014 anknüpfen. Dass auch dieses Jahr die Vorberichte wieder die Seiten der Lokalzeitungen gefüllt haben, hat auch damit zu tun, dass die Möglichkeit zumindest kleinerer Riots weiterhin existiert – und von den Sicherheitsbehörden beschworen wird. Vor Jahresfrist lieferten sich nach einem Angriff der Polizei auf den autonomen Block, der zur Beendigung der Demo führte, Hunderte Linksradikale und Jugendliche aus dem Viertel Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nach einer halben Stunde war alles vorbei, doch die Bilder brennender Barrikaden auf der Sonnenallee blieben als Mahnung – und manchen als Verheißung – für dieses Jahr.
Die Tradition des Berliner Revolutionären 1. Mai und seiner untrennbaren Verbindung mit gewaltsamen Auseinandersetzungen geht auf das Jahr 1987 zurück. Die Demo gab es damals noch nicht, stattdessen ein Straßenfest auf dem Lausitzer Platz mit all den autonomen und Hausbesetzergruppen, Stadtteilinis, alternativen Jugendlichen und Punks, die Westberlin zu dieser Zeit so lebendig machten. Am Morgen hatten Hundertschaften das Büro der Initiative für einen Volkszählungsboykott durchsucht. Die Provokation beantworte die Szene, indem sie die unterbesetzte Polizei gewaltsam erst von dem Fest, später nach einem Gegenangriff aus dem gesamten Kiez vertrieb. Im Laufe des Abends beteiligten sich immer mehr Bewohner:innen, darunter viele der oft in ärmlichen Verhältnissen lebenden Migrant:innen, die in den Jahren zuvor nach Kreuzberg gezogen waren, an den Kämpfen, die schließlich in Zerstörungswut mündeten.
Und ein Mythos
In einem aktuellen Text des Demobündnisses wird wehmütig auf diese Dynamik zurückgeschaut: Es war dieser Tag, „der für viele ausländische Jugendliche auch den Ausbruch aus ihren Familienstrukturen darstellte“ und an dem „das gemeinsame Kampf- und Wir-Gefühl im Stadtteil zu einem Aufbruch gegen das System wurde“. Zurück blieben am Ende ein abgebrannter Bolle-Supermarkt und insgesamt 36 geplünderte Läden. Und ein Mythos.
Gepflegt wird dieser seit dem ersten Jahrestag des Aufstands, als 1988 Tausende zur ersten „1. Mai Demonstration“ kamen. Trotz zweier Absagen wegen interner Streitigkeiten Anfang der 1990er Jahre und eines polizeilichen Verbots 2001, das aber auch in Straßenschlachten endete, hat die Demo nicht nur überlebt, sondern zehrt weiter von diesem Mythos. Sowohl die eigene Mobilisierung wird durch den mitschwingenden Randalefaktor erhöht als auch die öffentliche Wahrnehmung, die zuweilen fast in Hysterie mündete. „Der Riot ist das Erbe der Demo, das immer da war“, so sagt es im Gespräch mit der taz ein langjähriger Mitorganisator, der – auch das gehört dazu – anonym bleiben will. David sei er im Folgenden genannt.
Der autonome 1. Mai in Berlin entfaltete über die Stadt hinaus eine Faszination, die sich nicht nur anhand ritualisierter „Tagesschau“-Berichterstattung festmachen lässt, sondern auch durch die Übernahme des Konzepts. So zelebrieren auch in Wuppertal – dort begann die Tradition sogar schon 1986 –, Nürnberg, Bremen und seit Mitte der 1990er Jahre in Hamburg radikale Linke einen revolutionären 1. Mai.
Ritualisierte Auseinandersetzungen mit der Polizei, in ähnlicher, manchmal sogar größerer Intensität gibt es dabei vor allem in Hamburg, üblicherweise im Schanzenviertel vor der Roten Flora, auch unabhängig vom Demogeschehen. Anders aber als in Berlin, wo es eine Revolutionäre Demo zur festen Uhrzeit immer in denselben Kiezen gibt, ist die Szenerie in Hamburg fluider: verschiedene Stadtteile, unterschiedliche Bündnisse, getrennte Demos von Anarchos und Kommunist:innen.
Europaweit mobilisiert
Für den Berliner David werde die Erzählung der sozialen Eruption, der massenhaften Militanz, inzwischen „vor allem „diskursiv am Leben erhalten“. Geredet und geschrieben wird viel darüber, aber passieren tut wenig. Die letzten Krawalle, die diesen Namen auch verdient hatten, gab es 2009. Seitdem fliegen zwar noch vereinzelte Steine, aber die Polizei ist immer Herrin der Lage.
Dass sich ein Szenario von 1987 oder auch vom Hamburger G20-Gipfel 2017 wiederholen kann, bei dem die Polizei zumindest zeitweilig zum Rückzug aus dem Viertel gezwungen wurde, gilt als ausgeschlossen. Hamburg konnte nur geschehen, weil die Szene europaweit mobilisiert hatte; dagegen reichen ein paar Erlebnisorientierte, die aus Zehlendorf oder Bernau nach Kreuzberg kommen, nicht aus.
Ein Grund für das fundamental gesunkene Gewaltlevel, das selbst hinter den meisten Gewerkschaftsdemos in Belgien oder Frankreich zurückbleibt, ist vor allem, dass sich „die Kräfteverhältnisse massiv verschoben haben“, wie es David sagt. Von der starken Autonomenbewegung der 1980er und auch noch 1990er Jahre ist kaum etwas übrig geblieben, auch linke, migrantische Organisationen haben massiv an Zulauf und Kraft verloren. Die gesamte Linke, erst recht ihr radikaler Teil, ist in der Krise und gesellschaftlich marginalisiert. Dem gegenüber stehen jedes Jahr mehr als 5.000 Polizist:innen, ganz anders ausgestattet als noch vor 35 Jahren und professionell für die Einhegung von Ausschreitungen trainiert.
Die Diskussion darüber, dass die Scharmützel, die sich Demonstrant:innen und Polizei liefern, nur Folklore sind, ist schon so alt wie die Geschichte der Demo. 1988 kam es zu vereinzelten Plünderungen und vergleichsweise überschaubaren Kämpfen mit der Polizei und 134 Festnahmen. Die taz zog ein enttäuschtes Fazit: „Es war, als ob man einen schlechten Film zum zweiten Mal sieht (…), ein flauer Abklatsch der legendären Vorjahresrandale.“
„Mit bunten Fähnchen und Schalmeienkapellen“
Über das Jahr 1989 lässt der Szeneautor Sebastian Lotzer in seinem Buch „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ einen Protagonisten sagen: „Siebenundachtzig ist großartig gewesen, aber Bolle ist jetzt Geschichte. Wenn das so weitergeht, werden wir bald da landen, wo die K-Gruppen in den Siebzigern angekommen sind. Aufmärsche mit bunten Fähnchen und Schalmeienkapellen.“
David hält dem eine andere Entwicklung aus den vergangenen Jahren entgegen: „Das Interesse der Organisator:innen, daraus eine politische Demo zu machen ist sichtbar gewachsen.“ Mehr Reden, mehr Transparente, mehr Inhalte. Weil viele der Teilnehmer:innen aber nicht in Blöcken laufen, sondern außerhalb als Voyeure unterwegs sind, und sich dort vermischen mit ungezählten Fotograf:innen und oft auch einem Polizeikessel, sei eine Außenwirkung dennoch schwer zu erzielen.
Auch medial ist trotz der breiten Berichterstattung wenig bis nichts zu hören über die konkreten Inhalte. Dafür, dass dies an der Randaleerzählung liegen würde, die den Blick auf inhaltliche Aussagen überlagerten, fehlt jedoch der Gegenbeweis. Über gewerkschaftliche Forderungen der deutlich kleineren, wie üblich in Deutschland bis zur Anbiederung friedlichen DGB-Demo am Vormittag, berichtet auch niemand. Stattdessen: Standardmeldungen über die Zahl der Demonstrierenden und die Teilhabe prominenter SPD-Politiker.
Trotz ihres Eventcharakters ist die Revolutionäre Demo im Gegensatz zu jener der Gewerkschaften im Kern noch eine politische Veranstaltung. Hier vereinen sich jene, die ihre Unzufriedenheit mit dem Leben in der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen wollen. Und für die Organisierten, die das ganze Jahr an eher kleineren Projekten arbeiten, für die es kaum Aufmerksamkeit gibt, ist es der Tag, an dem sich zeigt, dass sie auch viele sein können. Organisiert jedoch ist von den 20.000 nur ein Bruchteil, wie David sagt; viele kommen als zumeist sympathisierende Schaulustige. Fliegende Flaschen und Polizist:innen in Schildkrötenformation lösen eine ungemeine Anziehungskraft aus.
Die Gewaltfrage
„Die meisten, die an der Demo partizipieren, begreifen sich in irgendeiner Weise als militant – im Sinne von politischer Entschlossenheit“, sagt David. Wenn sich diese Haltung und die Wut dann doch einmal Bahn bricht, sei das „nichts Illegitimes“. Im Gegenteil. „Es wäre mir nicht unrecht, wenn mal wieder mehr passieren würde“, so David, ohne dass er glaubt, dass sich dadurch etwas zum Besseren verändern würde. „Entstehen würde dadurch ja auch nicht automatisch eine starke Organisation.“
Die Gewaltfrage wurde unter radikalen Linken lange kontrovers diskutiert. Als „gute Gründe für militante Aktionen“ gelten laut einem autonomen Lexikoneintrag zum Kreuzberger 1. Mai, Angriffe und „Schikanen“ gegen die Demo nicht hinzunehmen“ oder der „rebellischen Wut“ vieler Menschen nicht „politisch-sozialarbeiterisch“ zu begegnen. Dagegen könne die Randale „von Sicherheitsstaats-Politikern politisch gegen uns gewendet werden“, Unbeteiligte und Schaulustige in Mitleidenschaft ziehen und hätten „kein ausgesprochenes politisches Ziel“.
Doch auch dieser Text ist mehr als 20 Jahre alt und beschäftigt heute kaum noch jemanden in der radikalen Linken. Wenn heute noch über Militanz diskutiert wird, dann eher unter Klimaaktivist:innen, die nach der Legitimität von Sabotageakten fragen. Das schwindende Interesse am klassischen Riot ist dabei nicht nur Ausdruck eigener Schwäche, sondern womöglich auch eines Lernprozesses. Jenseits von Aufmerksamkeit lässt sich dadurch kein politisches Ziel erreichen; auch gibt es kaum einen Grund, die eigenen Viertel zu zerlegen. „Wenn sich die Bullen komplett verpissen würden, würde gar nichts passieren“, sagt David. Wenn es heute noch zu Auseinandersetzungen komme, dann nicht aufgrund eigener offensiver Aktionen, sondern weil „auf Angriffe reagiert“ würde. Das immerhin sei „besser, als sich verprügeln zu lassen“, und sei auch den Bewohner:innen Neuköllns und Kreuzbergs „gut vermittelbar“.
In diesem Jahr kehrt angesichts der rapiden Preissteigerungen die soziale Frage wieder mit Wucht zurück. „Jedes Jahr sagen wir, die sozialen Widersprüche spitzen sich dramatisch zu“, sagt David, „aber jetzt stimmt es wirklich“. Nicht ausgeschlossen, dass der Revolutionäre 1. Mai eine politische Zukunft hat – ganz unabhängig davon, ob es knallt.
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