Russischer Aktivist über seinen Protest: „War auf das Schlimmste gefasst“
Der Menschenrechtler Oleg Orlow protestierte mitten in Moskau gegen den Krieg und kam glimpflich davon. Hier spricht er über die Aktion.
taz: Herr Orlow, Sie haben am Sonntag allein auf dem Roten Platz in Moskau protestiert. Auf Ihrem Schild stand: „Unser Unwille, die Wahrheit zu wissen, und unser Schweigen machen uns zu Mittätern von Verbrechen“. Mit welchem Ziel haben Sie das getan?
Oleg Orlow: Ich habe das Gefühl, dass wir Russen alle zu Komplizen eines schrecklichen Verbrechens werden. Das habe ich versucht meinen Mitbürgern zu vermitteln, als ich auf den Roten Platz ging. Ich appelliere an sie – an alle in Russland. Ich weiß, dass es eine Protestbewegung gibt, aber sie ist sehr klein, sehr schwach. Ich sehe, dass viele die Wahrheit nicht wissen wollen.
Woher kommt das?
Die Russen erkennen vielleicht tief in ihrem Inneren, dass etwas Furchtbares und Schreckliches passiert. Aber sie blenden es aus, täuschen sich absichtlich. Ich denke, es ist ähnlich wie in Deutschland im Dritten Reich: Die Menschen wussten zwar, dass es in ihrer Nähe Todeslager gab, aber sie wollten es nicht wahrhaben, sie haben bewusst die Augen verschlossen, weil sie wahrscheinlich dachten: Was können wir tun? Was wird das schon verändern?
Oleg Orlow, ist russischer Menschenrechtsaktivist und ehemaliges Vorstandsmitglied des mittlerweile aufgelösten Menschenrechtszentrums Memorial.
Darum schweigen sie?
Das Schweigen kommt sowohl vom Unwillen, etwas wissen zu wollen, als auch von der Angst. Es gibt Angst. Ich wollte den Russen mit meiner Aktion auch zeigen, dass man die Angst überwinden kann. Man muss raus, man muss sich artikulieren. Dies ist meine Botschaft an meine Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Kommt die Botschaft an?
Ich bin mir nicht sicher, ob sie meine Mitbürger erreichen wird. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich wirklich alles unternommen habe. Ich habe das ja wegen meiner eigenen Hilflosigkeit getan. Ich kann keinen Einfluss auf die schrecklichen Ereignisse nehmen, aber ich habe mich für diesen Weg entschieden.
Sie sind bei dieser Aktion festgenommen worden.
Ja, die Polizei hat mich festgenommen und auf die nächste Polizeiwache gebracht. Insgesamt war das meine vierte Festnahme seit dem 24. Februar. Ich habe mit einem Strafverfahren gerechnet. Aber es wurde kein Strafverfahren eingeleitet. Das Erstaunlichste ist, dass sie auf meinem Plakat nichts gefunden haben, was ihrer Auffassung nach die Streitkräfte diskreditiert.
Sie sind selbst überrascht von dem Ausgang?
Ich kann mir nicht erklären, was dahinter steckt und warum es so gekommen ist. Man hat bei Leuten, die mit dem Slogan „Nein zum Faschismus“ auf die Straße gegangen sind, eine Diskreditierung der Armee festgestellt. Aber bei meinem Plakat sehen sie keine Diskreditierung der Streitkräfte. Stattdessen wirft man mir vor, gegen die Vorschriften für das Abhalten von Kundgebungen verstoßen zu haben, weil man ja auf dem Roten Platz keine Kundgebungen abhalten darf. Ich war auf das Schlimmste gefasst, aber man hat mich sehr sanft behandelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln