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Russischer Aktivist über seinen Protest„War auf das Schlimmste gefasst“

Der Menschenrechtler Oleg Orlow protestierte mitten in Moskau gegen den Krieg und kam glimpflich davon. Hier spricht er über die Aktion.

Oleg Orlow bei einer Protestaktion am Sonntag auf dem Roten Platz in Moskau Foto: Facebook/Screenshot: taz
Bernhard Clasen
Interview von Bernhard Clasen

taz: Herr Orlow, Sie haben am Sonntag allein auf dem Roten Platz in Moskau protestiert. Auf Ihrem Schild stand: „Unser Unwille, die Wahrheit zu wissen, und unser Schweigen machen uns zu Mittätern von Verbrechen“. Mit welchem Ziel haben Sie das getan?

Oleg Orlow: Ich habe das Gefühl, dass wir Russen alle zu Komplizen eines schrecklichen Verbrechens werden. Das habe ich versucht meinen Mitbürgern zu vermitteln, als ich auf den Roten Platz ging. Ich appelliere an sie – an alle in Russland. Ich weiß, dass es eine Protestbewegung gibt, aber sie ist sehr klein, sehr schwach. Ich sehe, dass viele die Wahrheit nicht wissen wollen.

Woher kommt das?

Die Russen erkennen vielleicht tief in ihrem Inneren, dass etwas Furchtbares und Schreckliches passiert. Aber sie blenden es aus, täuschen sich absichtlich. Ich denke, es ist ähnlich wie in Deutschland im Dritten Reich: Die Menschen wussten zwar, dass es in ihrer Nähe Todeslager gab, aber sie wollten es nicht wahrhaben, sie haben bewusst die Augen verschlossen, weil sie wahrscheinlich dachten: Was können wir tun? Was wird das schon verändern?

Im Interview: Oleg Orlow

Oleg Orlow, ist russischer Menschenrechtsaktivist und ehemaliges Vorstandsmitglied des mittlerweile aufgelösten Menschenrechtszentrums Memorial.

Darum schweigen sie?

Das Schweigen kommt sowohl vom Unwillen, etwas wissen zu wollen, als auch von der Angst. Es gibt Angst. Ich wollte den Russen mit meiner Aktion auch zeigen, dass man die Angst überwinden kann. Man muss raus, man muss sich artikulieren. Dies ist meine Botschaft an meine Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Kommt die Botschaft an?

Ich bin mir nicht sicher, ob sie meine Mitbürger erreichen wird. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich wirklich alles unternommen habe. Ich habe das ja wegen meiner eigenen Hilflosigkeit getan. Ich kann keinen Einfluss auf die schrecklichen Ereignisse nehmen, aber ich habe mich für diesen Weg entschieden.

Sie sind bei dieser Aktion festgenommen worden.

Ja, die Polizei hat mich festgenommen und auf die nächste Polizeiwache gebracht. Insgesamt war das meine vierte Festnahme seit dem 24. Februar. Ich habe mit einem Strafverfahren gerechnet. Aber es wurde kein Strafverfahren eingeleitet. Das Erstaunlichste ist, dass sie auf meinem Plakat nichts gefunden haben, was ihrer Auffassung nach die Streitkräfte diskreditiert.

Sie sind selbst überrascht von dem Ausgang?

Ich kann mir nicht erklären, was dahinter steckt und warum es so gekommen ist. Man hat bei Leuten, die mit dem Slogan „Nein zum Faschismus“ auf die Straße gegangen sind, eine Diskreditierung der Armee festgestellt. Aber bei meinem Plakat sehen sie keine Diskreditierung der Streitkräfte. Stattdessen wirft man mir vor, gegen die Vorschriften für das Abhalten von Kundgebungen verstoßen zu haben, weil man ja auf dem Roten Platz keine Kundgebungen abhalten darf. Ich war auf das Schlimmste gefasst, aber man hat mich sehr sanft behandelt.

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4 Kommentare

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  • Dazu passen hier noch ein bei uns bisher wenig bekanntes Video von einem Mann, der vergangene Woche in Kostroma ein beleuchtetes "Z" niederreißt, ohne dass ihn die Objektschützer ernsthaft daran hindern zu wollen scheinen.



    www.themoscowtimes...-z-monument-a77221

  • Ein Teil der strategischen inneren psychologischen Kriegsführung. ... das führt eben auch zu Verunsicherung, doppelten Botschaften, "...seht her, ist doch gar nicht so schlimm..." grundsätzlich kann mann/frau auch demonstrieren..." Und keiner weis, ob das eben "morgen" auch noch so ist. Leute verschwinden.. Ihre Meinung oder sie selbst. Und dann ist es eben besser, gar nicht erst aufzufallen. Angst - subtil und überall als Hintergrundrauschen.

    • @Zeuge14:

      Dass sich Hr. Orlow nicht in Sicherheit wiegen sollte, glaube ich auch. Allerdings war er dabei sicher auch auf das Schlimmste gefasst. Hut ab, Hr. Orlow erreicht etwas: Geht auf die Straße und demonstriert. Das kann das Regime drehen und wenden wie es will, es bleibt ein Erfolg für die Demokratie.

    • @Zeuge14:

      Das ist in diesem Fall m.E. eher unwahrscheinlich. Man muss sich von der Vorstellung lösen, es gäbe eine Art "Big Brother" in Russland, der jede Kleinigkeit immer und überall lückenlos mitbekommt und kohärent koordinierte Gegenmaßnahmen fährt, die jedes Mal zum selben Ergebnis führen. Es gibt den Versuch, so ein Ding zu erschaffen, aber das Wesentliche, was durch den Druck erschaffen wird, ist die Angst der Menschen davor, denn das reicht schon, um sie einzuschüchtern. Faktisch gibt es aber immer noch Lücken und Inkohärenzen, die sogar Raum für kleine Gegenaktionen bieten können. Es kommt eben auch darauf an, an wen man kommt.

      In den ersten Tagen des Krieges gab es eine ähnliche Episode auf dem Platz vor der Lenin-Bibliothek in Moskau (das war Ende Februar noch vor den extremen Verschärfungen der Meinungsunterdrückung, spielt also noch auf einem anderen Nieveau, ist aber strukturell ganz ähnlich).



      Ein deutscher Reporter zeigte Passanten auf dem Handy Kriegsbilder von den ersten Angriffen auf Kiew. Die Miliz stand nicht weit und griff schon ein, wenn sich nur kleine Gruppen von Stehenbleibenden bildeten.

      Manche Leute winkten ängstlich ab, andere schimpften, zwei junge Frauen schauten sich die Bilder ungläubig an und sagten, sie schämten sich. Ein Polizist kommt dazu und sagt, das geht hier nicht. Der Reporter erklärt, schauen Sie, das passiert gerade in Kiew. Der Polizist schaut sich die Bilder schweigend an und fragt dann: Ist das wahr, wirklich in Kiew? Ok, wenn Sie mit Ihnen reden wollen, können Sie hier stehen. Und geht weg, ohne Konsequenzen.

      Das gibt es jetzt natürlich nicht mehr so, aber Olegs Aktion zeigt dasselbe Muster.