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Der Kompromiss zur Patentaussetzung verfehlt das Ziel einer globalen Impfgerechtigkeit. Gleiche Rechte für alle sehen anderes aus

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Anne Jung

ist Politikwissenschaftlerin und Germanistin. 1998 stieg sie bei medico international als Kampagnenkoordinatorin ein. Seit 2014 ist sie Referentin für globale Gesundheit und seit 2016 leitet sie darüber hinaus die Öffentlichkeitsabteilung. Ihr Arbeitsbereich umfasst globale Gesundheit sowie politische Determinanten von Gesundheit, darunter internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffhandel.

Es ist über 500 Tage her, dass die Regierungen von Südafrika und Indien inmitten der sich ausbreitenden Covid-19-Pandemie einen von globalen Prinzipien geleiteten Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) zur vorübergehenden Aussetzung der Patente gestellt haben. Während mehr als 100 Länder vor allem aus dem globalen Süden den Antrag unterstützten, verteidigte die Mehrheit der Industrienationen die Interessen der Wirtschaft und lehnte den Antrag ab. Mittlerweile liegt ein Kompromissvorschlag vor, verhandelt von der EU, den USA, Indien und Südafrika. Spoiler: Das Ziel einer globalen Impfgerechtigkeit verfehlt er drastisch.

Zur Erinnerung: Gebraucht wird, so argumentieren Indien und Südafrika in ihrem ursprünglichen Antrag, eine global vereinbarte Verzichtserklärung, der sogenannte Waiver, für Patente und andere Rechte des geistigen Eigentums auf Covid-19-Medizinprodukte. Diese soll gelten, bis die Pandemie überwunden ist. Verbunden mit einem Technologietransfer könnte so die Produktion massiv ausgeweitet werden, und dies zu viel geringeren Kosten als bisher. Der Waiver böte darüber hinaus Rechtssicherheit vor Klagen der Pharmaindustrie. Der nun vorgelegte „Kompromiss“ bestätigt im Wesentlichen die bisherigen Positio­nen der USA und der EU. Er ist in mehrfacher Hinsicht unzureichend. Zum einen soll er nur für Impfstoffe gelten, nicht aber für Therapeutika und Diagnostika zur Identifikation und Behandlung von Covid-19-Erkrankungen. Gerade in Ländern, die bis heute nicht flächendeckend mit Impfstoffen versorgt sind, ist das ein riesiges Problem. Eine gezielte Teststrategie aber böte gerade in den Ländern, in denen ein fortgesetzter Lockdown zu Verarmung und Hunger beiträgt, einen besonders wichtigen Schutz. Auch die neu entwickelten Medikamente zur Behandlung von Erkrankten müssen verfügbar und erschwinglich sein, um zu verhindern, dass Menschen sterben, weil sie kein Geld für die durch Patente überteuerten Medikamente haben.

Der Kompromissvorschlag verkompliziert zweitens das im Trips-Abkommen vorgesehene Verfahren der Erteilung von Zwangslizenzen ohne Zustimmung der Patenthalter. Dabei wäre eine schnelle Ankurbelung der Produktion über­lebensnotwendig, auch um weitere Mutationen zu verhindern. Bislang haben nur rund 15 Prozent der Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen eine Impfdosis erhalten. Dort wurden in den vergangenen Monaten weniger Erstimpfungen verabreicht als in Ländern mit hohem Einkommen Auffrischungsimpfungen. Die Covid-Pandemie endet aber nicht, nur weil in Europa ausreichend Dosen vorhanden sind. Es ist gut, dass Moderna die Patente freiwillig aussetzt. Allerdings sollte das angesichts von 17 Milliarden Dollar, die in den letzten Jahren aus öffentlichen Mitteln in den Konzern geflossen sind, nicht als große humanitäre Geste überinterpretiert werden.

Besonders bedenklich ist drittens der Vorschlag, dass die Patentaussetzung nicht für alle Länder gleichermaßen gelten soll. Vielmehr soll sie auf sogenannte Entwicklungsländer beschränkt sein, die 2021 weniger als 10 Prozent der weltweiten Impfstoffdosen exportiert haben. Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass ein erheblicher Anteil der Impfdosen von AstraZeneca in Indien produziert wurde. Wenn es bei der Diskussion über die Ausweitung der Produktion und den gleichberechtigten Zugang zu Impfstoffen geht, ist es unverantwortlich, Länder mit erheblichen Produktionskapazitäten wie Brasilien auszuschließen.

Im Umgang mit der Pandemie zeigen sich seit zwei Jahren die systemischen Rahmenbedingungen des politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung. Um den Wissensvorsprung der Industrieländer unangetastet zu lassen, wird die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten billigend in Kauf genommen und mit postkolonialer Rhetorik verschleiert. Jetzt sei die „Zeit der Heilung zwischen den beiden Kontinenten“, unterstrich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen während des EU-Afrika-Gipfels im Februar und klammerte einen Atemzug später die Aussetzung von Patenten explizit von dem „Heilungsprozess“ aus. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa entgegnete: „Was uns aus der Pandemie herausführen wird, sollte als öffentliches Gut betrachtet werden. Wir wollen keine Brosamen von irgendjemandes Tisch erhalten.“

Nun werden die Länder des Südens mit einem Kompromiss, der keiner ist, in die Knie gezwungen. Verbesserungen scheinen kaum mehr möglich, weitere Verschlechterungen durchaus. Das Problem: Hat man einen Whisky einmal mit Wasser verdünnt, lässt sich das nicht mehr rückgängig machen. Der Öffentlichkeit aber wird ein gut gefülltes Glas präsentiert. Genauso hat strategische Befriedungspolitik im Interesse der Wirtschaft immer wieder funktioniert: Nachdem z. B. das Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen unterzeichnet war, ließ sich die Ächtung von Anti­fahrzeugminen nicht mehr auf die politische Agenda setzen. Nach dem Kimberley-Prozess ­gegen Konfliktdiamanten galt das Problem als erledigt, obwohl es das Papier nicht wert war, auf dem es geschrieben wurde. Jetzt ist der letztmögliche Moment, um öffentlich deutlich zu machen, dass dieser „Kompromiss“ nicht annehmbar ist.

Hat man einen Whisky einmal mit Wasser verdünnt, lässt sich das nicht mehr rückgängig machen

Eine Gruppe südafrikanischer Wis­sen­schaft­le­r:in­nen und Nichtregierungsorganisationen haben Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa inzwischen aufgefordert, dem Vorschlag in seiner jetzigen Form nicht zuzustimmen und weiterhin die Entschlossenheit zu zeigen, die zu einem sinnvollen Verzicht führen könnte. Nein zum Scheinverzicht auf Patente heißt es in dem Schreiben.

Seinen Anspruch, Verteidigerin der Menschenrechte zu sein, kann Europa endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, wenn es nicht endlich beginnt, das Versprechen einer globalen und sozialen Ordnung mit gleichen Rechten für alle zu verwirklichen.

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