Schanghai im Lockdown: Die gebrochene Stadt
Millionen Menschen sind eingesperrt, die Nahrungsverteilung stockt: In Schanghai zeigt sich die hässliche Fratze des chinesischen Regimes.
D ie junge Frau in Schanghai versteckt sich hinter der abgeschlossenen Wohnungstür, mit ihrem Smartphone möchte sie die drohende Katastrophe dokumentieren. „Die Seuchenschutzbehörde hatte versprochen, dass sie mein Testergebnis erst noch überprüfen wird, ehe sie etwas unternehmen“, ruft sie hilflos in den Hausflur, wo die Polizisten bereits lautstark anrücken. Dann ist zu sehen, wie einer der Beamten, ohne lange zu fackeln, mit neun kraftvollen Stößen die Holztür eintritt. Wie ein Tiger auf der Jagd stürmt der Mann, in weißem Ganzkörperanzug gekleidet, auf sein Opfer zu. Die Chinesin wird schließlich in eines der unzähligen Isolationslager geschleppt.
Seit über einem Monat hält der weltweit größte Lockdown der Welt nunmehr an. Was in Schanghai passiert, legt auch auf eindrückliche Weise offen, wie weit die chinesische Staatsführung unter Xi Jinping bereit zu gehen ist, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Denn der Kampf gegen das Virus ist längst auch zur Propagandaschlacht geworden, bei der das Wohl der Bevölkerung immer häufiger nur als Vorwand dient.
Es geht vielmehr darum, zu beweisen, was die Regierung ihren Bürgern seit zwei Jahren täglich eintrichtert: dass China als einziges Land der Welt es schaffe, sein Land virusfrei zu halten. „Null Covid“ ist zum Symbol für die vermeintliche Überlegenheit des eigenen Systems gegenüber dem Westen geworden. Und nun droht es sich ins Gegenteil zu verkehren: Die epidemiologische Nulltoleranzstrategie legt schonungslos die Schwächen der Diktatur offen.
„Das ist ein Breitbandschaden für die Wirtschaft, die befindet sich zum Teil im freien Fall“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Seit den 1980er Jahren lebt der Manager bereits im Land, doch einen solch rasanten Umschwung wie in den letzten Monaten hat der Deutsche noch nicht erlebt: von Sonnenschein-Optimismus hin zur Trauerstimmung in wenigen Wochen.
26 Millionen Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt
Der 1. April hat alles verändert. An diesem Tag sperren die Behörden die knapp 26 Millionen Einwohner Schanghais in ihre Wohnungen ein. Der radikale Lockdown löste eine humanitäre Katastrophe aus, wie sie noch vor wenigen Monaten als undenkbar galt: In der wohlhabendsten Stadt des Landes bricht die Nahrungsmittelversorgung über mehrere Wochen zusammen, sodass selbst Multimillionäre und Banker auf den sozialen Medien verzweifelte Hilfeschreie absetzen.
Die Ausgangssperren führen dazu, dass Asthmakranke, Diabetiker und Krebspatienten sterben, weil ihnen der Einlass in die Krankenhäuser verwehrt wird. Hunderttausende Infizierte werden gegen ihren Willen in Massenlager abtransportiert, in denen hygienische Zustände ähnlich den Slums der Dritten Welt herrschen.
„Natürlich war ich mir schon vorher darüber bewusst, wozu das Regime hier fähig ist. Doch die letzten Wochen haben das noch mal eindrücklich bewiesen“, sagt ein europäischer Korrespondent, der seinen Umzug aus dem Land bereits geplant hat. Wie er wollen derzeit viele Ausländer Schanghai einfach nur noch verlassen.
Es dauert nicht lange, bis sich der Frust und die Verzweiflung der Bewohner immer offener entladen – in Handgemengen mit den Nachbarschaftskomitees, in der Plünderung von Supermärkten und in Schreichören aus den Fenstern. Als die Anwohner einer Apartmentsiedlung mit Kochlöffeln und Töpfen auf ihre Situation aufmerksam machen, hat die Polizei schon bald einen schuldigen Sündenbock gefunden: „Ausländische Kräfte stacheln die Menschen in Schanghai an, gegen die Pandemieprävention zu protestieren“, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme.
Auch in der Fudan-Universität, einer der Elitekaderschmieden des Landes, sind die Studierenden auf die Barrikaden gegangen. „Das ist eine Universität und kein Konzentrationslager“, haben sie an die Wände ihres Wohnheims geschmiert. Als sie sich zum Protest zusammentun, schalteten die Behörden kurzerhand den Internetzugang auf dem Campus ab und entsenden die Bereitschaftspolizei.
Dabei haben die jungen Chinesen allen Grund zur Revolte. Die meisten Universitäten in Schanghai sind bereits seit über zwei Monaten abgesperrt. Studierende berichten, dass sie über Wochen ihre Sechsbettzimmer nicht verlassen dürften. Bis heute wird ihr Alltag bis ins kleinste Detail vom sogenannten Gesundheitscode bestimmt, den jeder auf seinem Handy mit sich führt: An der Universität Schanghai etwa dürfen die Doktoranden die Waschräume nur alle zwei Tage für wenige Stunden aufsuchen.
In den Quarantänelagern der Stadt müssen die Insassen auf Duschräume verzichten. In den riesigen Anlagen, in denen Zehntausende Infizierte vegetieren, bleiben zum Säubern des eigenen Körpers lediglich Waschbecken, Lappen und Plastikeimer. In den riesigen Hangar-Hallen liegen die Menschen auf Campingbetten, bis sie irgendwann nach zwei negativen Covid-Tests in ihre Wohnungen entlassen – und dort weiter eingesperrt werden.
Ohne Test kein Einkaufen im Supermarkt
Damit sich eine ähnliche Tragödie in der Hauptstadt Peking nicht wiederholt, haben die Behörden keineswegs ihre „Null Covid“-Strategie überdacht. Stattdessen greifen sie noch früher durch. Schon nach insgesamt nur 200 Coronafällen im Pekinger Stadtgebiet hat die Lokalregierung das Speisen in Restaurants verboten, die Kinos geschlossen und eine strikte Testpflicht eingeführt. Wer keinen negativen PCR-Test innerhalb der letzten 48 Stunden vorweisen kann, wird nicht einmal in den Supermarkt gelassen. Um sich für einen drohenden Lockdown zu rüsten, haben praktisch sämtliche Hauptstadtbewohner ihre Vorratsspeicher aufgefüllt, manche sogar neue Tiefkühlfächer und Kühlschränke gekauft.
Insbesondere die älteren Chinesen bleiben optimistisch. „Ich glaube nicht, dass es zum Lockdown wie in Schanghai kommt“, sagt Li Dong, 72 Jahre, der in einer der traditionellen Hutong-Siedlungen im Stadtzentrum lebt. Er habe Vertrauen in die Behörden, sagt der Antikhändler: „Wenn nun auch die Hauptstadt fällt, was soll dann aus unserem Land werden?“
Staatspräsident Xi Jinping kann darauf keine andere Antwort finden als Abschotten und Isolieren. Warum der 68-Jährige so dogmatisch an seiner Nulltoleranzstrategie festhält, hat damit zu tun, dass diese zuvor funktioniert hat. Bis Jahresanfang haben die Lockdowns nur einen Bruchteil der Bevölkerung betroffen und blieben zeitlich begrenzt. Die absolute Mehrheit der 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen konnte bereits seit Frühjahr 2020 einen ganz normalen Alltag führen, wie er in den meisten Teilen der Welt erst jetzt langsam wieder möglich ist.
Doch spätestens mit der hochinfektiösen Omikron-Variante übersteigt der Preis von „Null Covid“ dessen Nutzen deutlich: Nach Schätzungen des Pekinger Marktforschungsinstituts „Gavekal Dragonomics“ war im April rund ein Viertel der Bevölkerung von den flächendeckenden Ausgangssperren betroffen.
Kritik wird rigoros zensiert
Selbst Zhong Nanshan, der als führender Gesundheitsexperte des Landes gilt, hat unlängst in einer akademischen Publikation eingeräumt, dass die Volksrepublik China ihre „Null Covid“-Strategie langfristig nicht aufrechterhalten könne. Doch anstatt sich auf eine inhaltliche Debatte zum Thema einzulassen, wurde der Beitrag des 85-Jährigen schlicht vom Zensurapparat gelöscht.
Chinas Kurs ist unweigerlich mit der Person Xi Jinpings verknüpft. Dieser wird weiterhin stur an seiner Strategie festhalten. Im Blick hat Chinas Chefideologe dabei vor allem den Kongress der Kommunistischen Partei im Herbst, während dessen er seine dritte Amtszeit ausrufen wird – als erster Staatschef seit Mao Tse-tung. Dabei soll nichts die Machtzementierung gefährden, weder kritische Stimmen noch ein unberechenbares Virus.
Damit sein Plan aufgehen kann, braucht Xi Jinping einen immer totalitärer arbeitenden Zensurstaat. In den Abendnachrichten des Staatsfernsehens werden täglich die Coronatoten in den USA behandelt, während China als Land der Seligen gepriesen wird. Selbst wissenschaftliche Beiträge über eine mögliche Öffnung des Landes werden auf den sozialen Medien ausradiert.
Diejenigen Chinesen, die mithilfe illegaler VPN-Software kritische Informationen aus dem Ausland konsumieren, haben Xi bereits den zynischen Spitznamen „Kaidaoche“ verpasst: ein alternder, von Persönlichkeitskult umnebelter Herrscher, der sein Land im Rückwärtsgang gegen die Wand fährt. Bei Mao stand am Ende das traumatische Chaos der Kulturrevolution. Xi Jinping hingegen läuft Gefahr, sein Land in die wirtschaftliche Rezession zu führen.
Zumindest in Schanghai flackert die Hoffnung auf ein Ende des Lockdowns auf. Am Wochenende schien sich die Situation deutlich verbessert zu haben. Die Behörden hatten erstmals keine lokalen Infektionen außerhalb der designierten Quarantänebereiche vermeldet. Mehrere Millionen Menschen durften endlich die leeren Straßen betreten.
Doch schon am Montag folgte ein herber Rückschlag: Die nationale Gesundheitskommission hat erneut einen Infektionsstrang außerhalb der abgesperrten Bereiche entdeckt. Dort haben sich mindestens 58 Menschen infiziert. Sämtliche Nachbarn von jedem einzelnen von ihnen werden nun für 14 Tage wieder in die Wohnung gesperrt.
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