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Umweltexperte über ukrainische AKWs„Gefährlicher als in Tschernobyl“

Der Überfall auf die Ukraine bedroht die AKWs im Land. Sorgen bereiten dem Umweltexperten Olexi Pasyuk vor allem die umkämpften Meiler in Saporischja.

Unter russischer Kontrolle: Atomkraftwerk Saporischja am 8. März Foto: APKonstantin Mihalchevskiy/SNA/imago
Bernhard Clasen
Interview von Bernhard Clasen

taz: Was ist los im 1986 havarierten Atomkraftwerk Tschernobyl?

Olexi Pasyuk: Vieles von dem, was dort passiert, wissen wir nicht. Einfach deswegen, weil die russischen Besatzer den Kontakt der Mannschaft zu ihren Familien und anderen Menschen nicht zulassen. Sie erlauben auch keinen Schichtwechsel. Angeblich, weil sie fürchten, dass ukrainische Militärs mit einer neuen Schicht eindringen könnten.

Was fürchten Sie?

Natürlich machen wir uns wegen Tschernobyl Sorgen, denn man kann nicht erwarten, dass sich Militärs an Vorschriften zur Einhaltung der Strahlensicherheit halten. Am meisten beunruhigen mich in Tschernobyl die Kühlbecken für abgebrannten Brennstoff. Da die Brennstäbe schon 20 Jahre in diesen Becken gekühlt werden, ist die Temperatur zum Glück schon relativ niedrig. Doch es gibt auch Experten, die eine Kettenreaktion befürchten, sollte Kühlwasser verloren gehen.

Bernhard Clasen
Im Interview: Olexi Pasyuk

ist stellvertretender Direktor der ukrainischen Umweltorganisation Ekodia.

Und wie kann Kühlwasser verloren gehen?

In den ersten Tagen der Besetzung des AKW durch russisches Militär gab es Probleme mit der Stromversorgung. Dann schien dies geregelt zu sein, die Ukraine brachte Dieselgeneratoren, die Leitungen wurden repariert.

Am Montag wurde die Leitung nach Tschernobyl offenbar von den Russen zerstört. Und nun?

Das muss unbedingt repariert werden. Wenn Strom ausfällt, gibt es auch keine Kühlung: Dann kann das Kühlwasser verdampfen und begrenzt Radioaktivität freigesetzt werden. Noch schlimmer wäre es, wenn das Kühlbecken beschädigt würde. Experten fürchten eine atomare Kettenreaktion, wenn 75 Prozent des Kühlwassers verloren gehen.

Aber es gibt doch jetzt in Tschernobyl trockene Lager für abgebrannten Brennstoff?

Der abgebrannte Brennstoff aus Tschernobyl hätte schon 2004 vom Nass- ins Trockenlager gebracht werden müssen. Dann wäre die Lage jetzt etwas weniger gefährlich. Doch das Trockenlager ist erst im letzten Jahr in Betrieb genommen worden. Von 21.000 Brennstäben im Abklingbecken haben sie im vergangenen Jahr 19.442 ins Trockenlager gebracht.

Kurz nach der Einnahme von Tschernobyl durch russische Truppen soll die Radioaktivität erhöht gewesen sein. Stimmt das?

Die Staatliche Messstelle Ökozentrum hat leicht erhöhte Werte gemessen. Man hatte das damit erklärt, dass die Militärfahrzeuge Staub aufwirbeln. Für mich ist das nicht schlüssig. Denn in dieser Jahreszeit gibt es kaum Staub auf den Straßen.

Was ist mit dem Sarkophag, dem Schutzmantel, der seit 2019 den zerstörten Reaktorblock umhüllt?

Es gibt ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem für den Sarkophag. Nur hat niemand daran gedacht, dass auf dem Gebiet von Tschernobyl gekämpft werden würde. Was ist, wenn die Belüftung ausfällt? Die Aufgabe der Ventilation ist es, eine bestimmte Temperatur und bestimmte Feuchtigkeit zu halten, um ein Rosten der Geräte zu verhindern. Zerstörungen sind schwer wieder zu reparieren. Jede Kampfhandlung am Sarkophag führt zu unkalkulierbaren Risiken.

Und in Saporischja, dem größten Atomkraftwerk Europas im Süden der Ukraine?

Dazu haben wir mehr Informationen. Dort haben die Russen einen Schichtwechsel erlaubt. Gleichwohl ist die Lage dort gefährlicher als in Tschernobyl. Dort ist aktiv gekämpft worden, die Russen haben das Verwaltungsgebäude beschossen. Dabei ist auch ein Transformator am 6. Block ausgefallen. Es ist auch nicht klar, inwieweit die Ummantelung der Reaktoren vor dem Schuss eines Panzers schützt.

Wenn dort der Kühlvorgang unterbrochen wird, ist das gefährlicher als in Tschernobyl, weil es sich um frisch abgebrannte Brennstäbe handelt. Als die Russen das AKW Saporischja einnahmen, waren von sechs Reaktoren drei am Netz, zwei davon wurden sofort runtergefahren. Aber der Reaktor Nr. 4, der am weitesten von den Kämpfen entfernt war, lief weiter. Inzwischen ist ein zweiter Reaktor dort in Betrieb. Sicherer wäre es gewesen, man hätte alle sechs Reaktoren heruntergefahren. Ein weiterer Faktor ist: das Personal im AKW Saporischja steht völlig unter Stress und ist übermüdet. Bei so einer Anspannung ist menschliches Versagen nicht auszuschließen.

Wie funktioniert derzeit die Energieversorgung in der Ukraine?

Wir sehen, dass die russischen Angreifer gezielt Infrastruktur vernichten. In Mariupol gab es 15 Stromleitungen in die Stadt. Die Russen haben sie alle gezielt vernichtet. In Achtirka haben sie die zentrale Versorgung der Heizungen zerstört – dort gibt es derzeit weder Strom noch Heizung. Wir verbrauchen ja derzeit weniger Strom als sonst. Aber wir können auch keinen Brennstoff mehr kaufen. 50 Prozent des Stroms kommen in der Ukraine aus AKWs. Schade, dass bei uns die Atomenergie eine so wichtige Rolle spielt. Das macht uns gegenüber Russland verletzlich.

Was fordern Sie von Europa?

Wir sind ja als Erbe der Sowjetunion mit Belarus und Russland in einem gemeinsamen Stromnetz. Wir wollen aus dieser Abhängigkeit heraus, in das westliche Netzsystem Entsoe-E. Vor dem Krieg war vereinbart worden, dass wir 2023 zu Entsoe-E wechseln können. Jetzt wird das hoffentlich schneller gehen.

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