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Abschied von KiewNahkampf um einen Platz im Zug

Auf dem Kiewer Bahnhof herrscht Chaos. Alle versuchen einen Zug in den Westen der Ukraine zu bekommen. Am Abend klappt es dann doch.

Rette sich wer kann: Auf dem Kiewer Bahnhof herrscht am Montag reines Chaos Foto: dpa

Kiew taz | „Ich habe nur Zucker bekommen“, klagt Liliya, die Tochter meiner Mitbewohnerin. „Kein Brot, kein Mehl, es gibt nichts mehr in den Geschäften.“ Und an einem Lebensmittellager hätten zwei bewaffnete Männer gestanden. Zum Abschied macht mir meine Mitbewohnerin Nadja Bratkartoffeln. „Und wo kommen denn die Kartoffeln her?“ frage ich sie. „Die habe ich gegen Nudeln eingetauscht“, sagt sie.

Um sechzehn Uhr mache ich mich am Montag nachmittag mit meinem Rad auf den Weg in Richtung Bahnhof. Ich klopfe noch einmal an das Fenster von meinem Nachbarn Alik, um mich zu verabschieden. Es ist nur seine Frau da. Alik sei nicht zu Hause, sagt sie. Ich sehe aber einen Schatten hinter ihr. Sicherlich denkt er, ich sei gekommen, um ihn zu bitten, mich zum Bahnhof zu fahren, er ist ja Taxifahrer. Verstehen kann ich ihn.

So fahre ich los auf den Straßen, die mir so vertraut sind. Doch heute ist alles anders als sonst. Die Straßen sind fast leer, überall sind Straßensperren, aus Müllcontainern oder Betonklötzen. Mitunter auch ausgebrannte Autos.

Am Bahnhof angekommen, erfahre ich, dass man heute mit jedem Zug kostenlos fahren kann. Für mich bedeutet das, dass meine Fahrkarte wertlos ist. In der Halle sind weniger Menschen, als ich erwartet hätte. Doch dann habe ich es kapiert. Die Leute stehen alle sozusagen in den Startlöchern an den Gleisabgängen. Denn mitfahren darf, wer zuerst da ist.

Irgendwohin gen Westen

Jetzt geht es also nicht mehr darum, nach Lemberg zu kommen. Es reicht, wenn ich irgendwohin in den Westen kann. Also versuche ich es mit dem erstbesten Zug und der geht an die ungarische Grenze.

Aber ich habe keine Chance in der Menschentraube am Zug. Der Schaffner lässt zuerst Frauen mit Kindern, Kranke, Alte und Frauen hinein. Und dann schließen sich die Waggontüren vor meinen Augen. Die zwei schwer bewaffneten Polizisten neben dem Schaffner vertreiben jegliche Gedanken, es auch gegen den Willen des Schaffners zu versuchen. Die Stimmung der Zurückgebliebenen ist aufgeheizt, es wird geschimpft, geflucht und geweint.

Nun unternehme ich einen neuen Anlauf. Zwei Stunden später wird ein Zug nach Warschau angekündigt, auf Gleis 21. Es ist inzwischen dunkel und Gleis 21 ist ganz woanders. Ich laufe los, kaum dass über Lautsprecher das Gleis angesagt wurde – einfach den anderen hinterher.

In dem fast dunklen Bahnhof bricht Chaos aus. Das Problem ist, niemand weiß, wo Gleis 21 ist. Chaotisch diese Menschenmenge, die ziellos umherrennt. Kinder schreien, Gedränge überall. Dann sind auf einmal irgendwo Einschläge, Sirenen zu hören und eine Lautsprecherstimme: „Luftalarm!“ Ich renne in die nächste U-Bahn. Da gibt es Luftschutzräume.

Glück gehabt

Menschen sind da unten mit Matratzen und Schlafsäcken. „Achtung, am Gleis“ sagt die Bahnbeamtin. Die U-Bahn fährt ein. „Bitte alle einsteigen. Die Bahn fährt nicht weiter. Legen Sie sich auf die Bänke, machen Sie es sich bequem.“

Nach drei Stunden gehe ich wieder zum Bahnhof. Nun versuche ich, in den Zug nach Lwiw zu kommen. Und ich habe Glück. Viele sind schon weg und wegen der nächtlichen Ausgangssperre sind keine neuen Leute mehr zum Bahnhof gekommen. Deswegen stehen nun vor den Zug nach Lemberg deutlich weniger Fahrgäste, auch allein reisende Männer werden mitgenommen.

Und kaum bewegt sich der Zug, kann ich mich entspannen. Zehn Personen kauern in einem Abteil. Normalerweise ist man da zu viert.

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