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Russland-Ukraine-KonfliktWas weißt du vom Krieg, mein Kind?

Wie so viele junge Menschen in Deutschland wuchs unsere Autorin im Frieden auf. Nun sieht sie, wie Nationalismus glücklich aufpoliert wird.

Ein Kuscheltier zwischen Trümmern nach einem Raketenangriff auf ein Haus in Kiew am 26. Februar Foto: Emilio Morenatti/ap

W as weißt du schon vom Krieg, mein Kind? Du bist: In eine Zeit und einen Ort des Friedens hineingeboren, oder mindestens in die Abwesenheit von Krieg. Was für ein unfassbares Glück. Deine Großmütter haben vom Krieg erzählt und dann ein Märchen vorgelesen. Dein Kontinent ist eine Festung, dein Pass wie ein Freifahrtschein. Von hier aus: Gute Aussichten – auf den Rest der Welt, und für dein Leben. Du hast gehört, dass das unfair ist, du hast das sogar gespürt. Aber dann hast du gelernt, mit den Schultern zu zucken. Betroffen den Kopf zu schütteln und zu sagen: Die Welt ist eben ungerecht.

Du weißt nichts vom Krieg. Und doch siehst du alles. Du siehst: Männer, ja, vor allem Männer, mit einer absurden Faszination für Kriegsführung, sie teilen das Video eines Traktors, der einen Panzer davonzieht, und Hände, die Munition fetten. Du siehst: Das Foto der weinenden Julia, in einem Lastwagen sitzend, ein Sturmgewehr zwischen die Knie geklemmt. Du siehst Angst, Mut und Widerstand. Leute, die sehnsüchtig auf die Auferstehung eines Helden warten. Hunderttausende, die für den Frieden auf die Straße gehen.

Und welche, die jetzt ihre Chance sehen, in eine Welt zurückzufallen, die wir mit so vielen Kräften zu überwinden versuchen. Sie polieren glücklich ihre alten Spielfiguren: Nationalismus, Konservatismus, Patriarchat. West und Ost, Schwarz und Weiß, eine vermeintlich „zivilisierte“ Welt und ihr „unzivilisiertes“ Gegenüber. Und über allem siehst du grüne Kurven nach oben schießen, bei Heckler & Koch oder Rheinmetall.

Du weißt nichts vom Krieg, dafür haben wir dir beigebracht, dass Krieg etwas ist, das in Geschichtsbüchern steht, und dass Dinge in Geschichtsbüchern bereits zu den Akten gelegt wurden. Wenn du fragst, warum es dann heute noch Nazis gibt, Faschismus und Kolonialismus, dann üben wir uns im Schulterzucken.

Die meisten verlieren, niemand gewinnt

Du weißt nichts vom Krieg, und doch alles: Die meisten verlieren, niemand gewinnt, viele bereichern sich. Im Kapitalismus ist auch Krieg ein Geschäftsmodell. Und Sprache wird leise zwischen Feuern verschoben: Es werden „Vaterländer verteidigt“, und „Nationalhelden“ erschaffen, und aus Menschen auf der Flucht „Flüchtlingswellen“ gemacht. An Grenzen und in Talkshows wird aufs Neue verhandelt, was niemals verhandelbar ist, angetastet, was unantastbar sein muss. Du weißt: Von deiner Festung aus interessiert nicht jeder Krieg gleich und auch nicht jedes Leben.

Du wünschtest, niemand müsste etwas wissen vom Krieg. Das ist naiv, aber so sollen Wünsche sein. Sie sind schwer zu verteidigen in diesen Zeiten, vor anderen und vor dir selbst. Genau wie diese Gewissheiten: Aus Gewalt wächst kein Frieden, Aufrüstung schafft keine Sicherheit, was nötig ist, ist nicht gleich gut. Was du tust und sagst, ist nicht egal, und was du nicht tust und nicht sagst, auch nicht. Du weißt nichts vom Krieg, mein Kind. Gerade deshalb musst du besonders wachsam sein.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
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3 Kommentare

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  • Vielen herzlichen Dank für diesen Text, liebe Frau Hierse. Er tut gut in dieser Zeit in der schon wieder Säbelrasseln und Kriegsgeschrei den Ton angibt.



    Lediglich der Absatz, in dem Sie die Geschlechterrollen in dieser apocalyptischen Szenerie beschreiben, scheint mir nicht mehr zeitgemäß:



    Ich sehe nämlich nicht nur "Männer (...) mit einer absurden Faszination für Kriegsführung (...) und Hände, die Munition fetten." und "Das Foto der weinenden Julia, in einem Lastwagen sitzend, ein Sturmgewehr zwischen die Knie geklemmt." (L.Hierse)



    Ja die gibt es natürlich, da haben Sie recht.



    Allerdings ich sehe zu meinem Entsetzen leider auch Millionen Männer die mit diktatorischer Staatsgewalt (Kriegsrecht) daran gehindert werden vom Schlachtfeld Ukraine zu fliehen, um ihr Leben zu retten, ihre Frauen und Kinder auf der Flucht schützen zu können. Und ich sehe und höre auch viel zu viele Frauen die aus der sicheren Distanz nach Waffen, Blut und Rache schreien... Eine Kakaphonie des Grauens!



    Krieg entmenschlicht ALLE und niveliert nebenbei auch Geschlechterrollen auf eine fürchterliche Weise.

  • Das überall gleich klingende Aufrüstungsgetöse der letzten Tage hat mich verstört; deshalb: danke, Lin Hierse.

  • Danke für diesen schönen & ehrlichen Beitrag. Er hebt sich wohltuend ab.