Aktivistin über die „Letzte Generation“: „Die größtmögliche Störung“
Die Blockaden der Klimaaktivist:innen der „Letzten Generation“ gehen weiter. Aimée van Baalen über die Symbolik, Ziele und Grenzen der Aktionen.
taz: Frau van Baalen, warum blockiert man als Essensretter*in eine Autobahn?
Aimée van Baalen: Wir brauchen momentan die größtmögliche Störung, diesen symbolischen Stopp, um Politik und Menschen darauf aufmerksam zu machen, auf welche Katastrophe wir gerade zusteuern. Wir müssen endlich anfangen, darüber nachzudenken, welche Schritte wir jetzt sofort machen können, damit wir in Zukunft nicht in einer zwei, drei oder vier Grad wärmeren Welt leben.
22, Aktivistin bei der „Letzten Generation“; sie arbeitet in einem Tattoostudio.
Die Verschwendung von Lebensmitteln, die Sie anprangern, steht da wirklich an allererster Stelle?
Wir fordern von der Bundesregierung ein Essen-retten-Gesetz. Das würde denen zugutekommen, die sich Nahrungsmittel schon jetzt nicht mehr leisten können. 1,6 Millionen Menschen sind bereits auf die Tafeln angewiesen, darunter 400.000 Kinder, und die Zahlen steigen, während die Ernteerträge leider fortlaufend sinken. Lebensmittelverschwendung bedeutet aber auch, dass durch die Überproduktion für den Konsumenten sinnlos CO2 produziert und unsere Böden strapaziert werden. Deshalb ist unsere zweite zentrale Forderung die nach einer Agrarwende, um den absoluten Klimakollaps zu verhindern.
Laut Umweltbundesamt macht die Verschwendung von Lebensmitteln jährlich nur etwa vier Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland aus. Ist das nicht doch ein sehr kleiner Fokus, den Sie da setzen?
Die Lebensmittelverschwendung ist ein leichtes Ziel, das sofort umgesetzt werden kann. Es gibt einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf der Klimaorganisation German Zero, und der Blick nach Frankreich, wo es seit 2016 ein Essen-retten-Gesetz gibt, zeigt, dass es funktioniert. Menschen können das nachvollziehen, dass es keinen Sinn macht, Nahrungsmittel wegzuwerfen, wenn sie noch genießbar sind.
Seit drei Wochen blockieren die Klimaaktivist*innen der „Letzten Generation" ausgehend von Berlin bundesweit Straßen und Autobahnen. In Berlin zählte die Polizei bis zum Wochenende an 8 Protesttagen mindestens 30 Aktionen. Auf der A100 bildeten sich im Berufsverkehr schnell kilometerlange Staus. Laut Polizeiangaben beteiligten sich in Berlin zwischen 5 und 50 Aktivist*innen. Bislang gab es mindestens 170 vorläufige Festnahmen und 121 Ordnungswidrigkeitsanzeigen wegen Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz, weil die Aktionen nicht angemeldet waren. Hinzu kommen 80 Strafanzeigen wegen Nötigung und Widerstands gegen die Polizei.
„Essen retten – Leben retten“ lautet der Slogan der Aktivist*innen. Sie fordern ein Gesetz gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln und eine sofortige Agrarwende. Laut dem Bürgerrat Klima 2021, in dem zahlreiche Expert*innen an klimapolitischen Forderungen mitgearbeitet haben, ist die Agrarindustrie weltweit für 30 Prozent der schädlichen Treibhausgase verantwortlich. Besonderen Anteil haben in diesem Sektor die Massentierhaltung mit 40 und die Überdüngung von Feldern mit 40 Prozent. (taz)
Angenommen, das Gesetz käme jetzt sofort – dann wäre doch trotzdem für das Klima noch nicht viel gewonnen. Sie müssten also nahtlos weiterblockieren, um Ihren hohen Ansprüchen zu genügen.
Natürlich brauchen wir einen Systemwandel, und wir wollen die Politik auch weiterhin dazu anhalten, unsere Lebensgrundlage zu sichern. Die Klimakatastrophe ist ja schon vor unserer Haustür angekommen, wie die Flut im Ahrtal gezeigt hat, und wir können es uns nicht mehr leisten, wegzuschauen und keine Maßnahmen zu ergreifen. In jedem Fall würden wir aber erst mal von der Straße gehen, wenn die Politik verspricht, das Essen-retten-Gesetz umzusetzen und sofortige Maßnahmen für eine Agrarwende zu ergreifen.
Ein Versprechen ist jetzt aber nicht allzu belastbar.
Natürlich ist so ein Gesetz nicht innerhalb von zwei Tagen umgesetzt, das wissen wir auch. Deswegen werden wir der Politik erst mal vertrauen, wenn wir ein öffentliches Versprechen bekommen.
Glauben Sie, dass die genervten Leute im Stau den Zusammenhang herstellen, dass es beim Thema Lebensmittelverschwendung eigentlich ums große Ganze geht?
Es ist für viele eine Störung, und ich kann verstehen, dass sie genervt von uns sind. Ich spüre den Unmut. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass massive Störungen des Alltags – zum Beispiel die Proteste der Frauenrechtsbewegung – auch zu großen Veränderungen geführt haben. Wir wollen aber auch gar nicht den einzelnen Bürger, die einzelne Bürgerin adressieren.
Warum nicht?
Es wird von der Politik viel auf den Einzelnen abgewälzt. Letztendlich brauchen wir einen Wandel, der von politischen Entscheidungen herrührt. Wir müssen kollektiv eine zukunftstaugliche Veränderung anstreben.
Müssen Sie nicht vielmehr gerade jede und jeden Einzelne*n überzeugen, um kollektiv etwas zu erreichen?
Wir können nicht kontrollieren, was ein Privathaushalt wegwirft. Wir könnten aber schnell und flächendeckend per Gesetz kontrollieren, was ein großer Supermarkt an Lebensmitteln entsorgt. Das wäre ein großer Fortschritt.
Der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat gesagt, man gewinne „ganz sicher keine gesellschaftlichen Mehrheiten, wenn man Krankenwägen, Polizei oder Erzieherinnen auf dem Weg zur Arbeit blockiert“.
Es geht nicht darum, jeden einzelnen davon zu überzeugen, dass unsere Protestform richtig ist. Es geht darum, die Menschen zu informieren, in was für einem Notstand wir uns befinden und die Politiker*innen dazu anzuhalten, endlich die Wahrheit zu sagen.
Aber kommt diese Information bei der Erzieherin an?
Ich wünsche es mir, aber ich weiß es natürlich nicht. Ja, unsere Forderung wird nicht den Klimakollaps aufhalten, da machen wir uns nichts vor. Aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, weil wir die unnötigste aller Emissionen einsparen. Selbst wenn Menschen diese Verbindung nicht herstellen, verstehen sie, dass es auch unter sozialen Gesichtspunkten nicht gut sein kann, Essen wegzuwerfen.
KritikerInnen sagen, dass Sie Menschenleben gefährden, wenn Sie etwa Rettungswege blockieren.
Natürlich machen wir uns Gedanken darüber. Aber wir haben den Konsens, dass wir auf jeden Fall eine Gasse bilden, wenn ein Rettungswagen durchmuss, und natürlich wählen diese Wagen auch immer die schnellste Route, um zum Krankenhaus zu kommen. Wenn die sehen, dass da schon ein Stau herrscht, nehmen sie eine andere.
Es gab die Meldung, eine Schwangere auf dem Weg zur Entbindung in ihrem privaten Pkw sei im Stau stecken geblieben und schließlich von der Polizei mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren worden.
Wir stehen in Kontakt mit der Polizei, damit sie uns Bescheid sagt und wir diese Menschen durchlassen können. Menschenleben sind immer wichtiger als der Protest. Andererseits provoziert die Politik aktuell, dass Millionen oder, global gesehen, Milliarden Menschen sehr viel größeren Bedrohungen ausgesetzt sein werden.
Ist Ihre Bewegung durch die Protestaktionen in den letzten zwei Wochen eigentlich gewachsen?
Wir sind auf jeden Fall mehr geworden. Die Blockaden haben in Berlin angefangen, jetzt blockieren wir auch in Freiburg, Stuttgart, Hamburg und München aktiv. In Berlin sind pro Blockadeort etwa 13 Personen aktiv im zivilen Widerstand.
Wie gehen Sie mit der Kritik um, da protestierten vor allem junge Mitglieder einer weißen, akademischen Mittelschicht?
Ich kann das nicht wirklich nachvollziehen. Wir sind keine akademische Initiative, das ist gut durchmischt. Es machen Menschen über 60 bei uns mit und auch Menschen, die eher aus dem Arbeitermilieu kommen. Wir hätten gerne auch mehr PoC bei uns und würden sie sehr gern integrieren, wenn sie sich bei uns melden würden.
Müssten Sie nicht eher aktiv auf Leute zugehen?
Das versuchen wir. Unsere Container-Aktionen zum Beispiel haben auch viele Menschen aus dem Globalen Süden angezogen, die sich solidarisch mit uns erklärt haben.
Sie selbst waren jetzt bei einigen Blockaden in Berlin dabei. Können Sie kurz erklären, wie Sie persönlich diese Aktionen erleben?
Ich gehe ängstlich dorthin, weil ich weiß, in was für eine unangenehme Situation ich mich begebe. Da sind Menschen, die sehr hart auf mich reagieren. Das macht Angst, aber ich weiß, wofür ich es tue und dass es das Richtige ist. Deswegen gehe ich zugleich gefasst auf einen solchen Protest. Bisher wurde ich einmal festgenommen.
Haben Sie sich auch schon mal angeklebt?
Bei diesen Protesten bislang nicht, denn das ist wirklich sehr belastend. Wobei es emotional auch sehr belastend ist, wenn wir uns vorstellen, wie es uns und unseren Familien in 20 Jahren gehen wird. Wir haben nur noch drei bis vier Jahre, um diese Zukunftsvision zu verändern.
Weitaus ungefährlicher und inhaltlich nicht abwegig wäre es, sich vor ein Ministerium oder ein Kohlekraftwerk zu setzen.
Wir haben das schon getan. Wir haben im Regierungsviertel gestanden, wir haben vor Kraftwerken gestanden, wir haben uns laut gemacht und teilweise auch blockiert. Und wir haben gesehen, dass die Politik solche Proteste einfach ignoriert.
Sie glauben, das wird auf der Autobahn anders?
Wir sehen zumindest, dass es einen größeren Diskurs darüber gibt, und hoffen, dass die Politik wahrnimmt, dass viele Menschen Angst vor dem Klimawandel und seinen Folgen haben. Viele Menschen haben Panik, ihre Kinder in diese Welt zu entlassen, in eine Zukunft, in der man eigentlich nicht leben möchte.
Das erinnert an die Stimmung in den 1980ern, als Menschen Straßen blockierten, um gegen das atomare Wettrüsten zu protestieren. Auch diese globale Bedrohung ist heute wieder ganz real – aber bei Ihnen kein Thema.
Ausgeweitet ist es eigentlich genau unser Thema. Wenn die Ressourcen weltweit immer knapper werden und Menschen deshalb ihre Heimat verlassen müssen, ist das ein sehr wahrscheinlicher Grund für kriegerische Konflikte, neben den aktuellen Ereignissen, die wir leider nicht so richtig beeinflussen können. Natürlich wollen wir die Unversehrtheit aller Menschen gesichert sehen.
Haben Sie schon mal daran gedacht, dass solche polarisierenden Aktionen dem Klimaschutz auch schaden könnten?
Das denke ich nicht. Das sieht man auch, wenn man in die Vergangenheit schaut. Die Proteste, die Martin Luther King angeführt hat, haben stark polarisiert, viele Menschen haben gesagt, das werde dem Thema eher schaden. Letztendlich sind aber immer mehr Menschen darauf aufmerksam geworden und die Politik hat verstanden, dass hier ein Unrecht behoben werden muss.
Die Innensenatorin hat ein härteres Vorgehen gegen Sie angekündigt. Beeindruckt Sie das?
Wir machen auf jeden Fall weiter, einige von uns sind auch bereit, ins Gefängnis zu gehen. Wir stehen komplett hinter der Sache und lassen uns nicht einschüchtern. Ich glaube auch nicht, dass die Politiker*innen mit gutem Gewissen Mütter und Väter einsperren können, die sich für das Leben ihrer Kinder einsetzen. Vor allem, wenn sich dies durch einen wissenschaftlich fundierten Klimaschutz vermeiden ließe.
Ziehen Sie eigentlich weitere Eskalationsstufen in Betracht? Ist Gewalt gegen Dinge, also Sabotage, auch ein künftiges Mittel für Ihren Widerstand?
Unsere Protestform ist das nicht, wir ziehen dort eine Linie. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass Protest friedlich bleiben muss, in der Sprache, gegenüber Menschen und ebenso gegenüber Gegenständen.
Und morgen geht es wieder auf die Straße?
Ja.
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