Argentinisches Kino auf der Berlinale: Eine eigene Zeit
Der argentinische Film “Sublime“ folgt der Achterbahnfahrt einer Freundschaft. “La edad media“ porträtiert eine Künstlerfamilie im Lockdown.
Außerhalb der Saison sind die Strände von Villa Gesell menschenleer. In dem argentinischen Badeort, 400 Kilometer südlich von Buenos Aires entfernt, kennen sich die Teenager Manu und Felipe seit Kindertagen. Mit Freunden spielen sie in einer Band, reißen zotige Witze und kicken mit Blick aufs Meer. Gemeinsam streifen sie durch den Wald oder schlendern mit ihren Gitarren durch die einsamen Straßen.
Nicht einmal Autos und selten Erwachsene sind an den entrückt wirkenden Drehorten zu entdecken, die Mariano Biasin für „Sublime“, sein Spielfilmdebüt gewählt hat. Konzentriert richtet der Filmemacher so den Fokus auf die Gefühls- und Erlebniswelt seiner jugendlichen Protagonisten und versteht geschickt beide Ebenen in der Handlung miteinander zu verknüpfen. Die aktuelle Realität des südamerikanischen Landes scheint er bewusst außen vor zu lassen.
2016 erhielt der argentinische Regisseur den Gläsernen Bären, den Kinder- und Jugendfilmpreis der Berlinale für seinen Kurzfilm „El Inicio“ (The Initiation, 2015), in dem ein ausgemusterter Kombi zum intimen Rückzugsort für „das erste Mal“ ausgestaltet werden soll.
Dieses Motiv greift Biasin in „Sublime“ erneut auf. In dem Coming-of-Age-Film treibt Felipe seinen Freund Manu dazu an, endlich die Nacht mit Azul in dem von ihnen gemütlich hergerichteten Kleinbus zu verbringen. Doch dann verläuft das romantische Treffen mit der Freundin anders als geplant, denn Manu hat sich in Felipe, seinen besten Freund verliebt.
Ein ganz neues Gefühl
Dieses neue Gefühl beängstigt den Jungen – weniger aus Furcht vor Stigmatisierung, sondern aus Sorge vor dem Verlust der kostbaren Freundschaft. In der Darstellung dieses inneren Konflikts überrascht der Film mit aufgeklärter Offenheit. Manu gelingt es, sich anderen mitzuteilen. Alle reagieren entspannt: sein Vater, auch Musiker, seine souveräne Ex-Freundin Azul genauso wie die selbstbewusste Lara.
„Sublime“:
19. 2., 17 Uhr, HKW
„La edad media“:
17. 2., 18 Uhr, Cinemaxx 5
19. 2., 15 Uhr, Cubix 7
Währenddessen laufen die Vorbereitungen für das erste Konzert ihrer Band. Noch fehlen ihnen die letzten Songs, doch der Auftritt auf Felipes Geburtstagsparty steht unmittelbar bevor. Manu, der Bassist und Texter der Gruppe, ist mit seinen Gefühlen hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Panik. Spielerisch überträgt Biasin diese starken Emotionen mit dem jugendlichen Verve des argentinischen Rock Nacional in den Soundtrack seines packenden Jugendfilms. „Du bist wie die Sonne, ich umkreise dich. Nichts wird sich ändern. Nada cambiará.“
In „La edad media“ (The Middle Ages) hingegen ist die argentinische Wirklichkeit allgegenwärtig. Die Filmemacher Alejo Moguillansky und Luciana Acuña leben mit Cleo, ihrer zehnjährigen Tochter, und der Hündin Juana in einem Häuschen mit Patio und Terrasse in Buenos Aires.
Doch im Lockdown der Pandemie können sie diesen Ort nicht verlassen und werden zu den Darstellern ihres turbulent inszenierten Films. Auf humorvolle Weise und mit den verfügbaren Ressourcen reflektieren sie in dieser Ausnahmesituation die eigene Existenz und das künstlerische Schaffen.
Alle im digitalen Durcheinander
Cleo folgt gelangweilt dem digitalen Schulunterricht. Ihrer Mutter Luciana springen die Teilnehmer im Online-Tanzworkshop ab, und Alejo versucht Samuel Becketts „Warten auf Godot“ per Videochat zu inszenieren. Flüchtig erscheint Margarita Fernández auf dem Bildschirm seines Computers. (Die betagte argentinische Ausnahmepianistin hatte Edgardo Cozarinsky zuvor in seinen Essayfilm „Medium“ porträtiert, der 2020 auch im Forum der Berlinale zu sehen war.)
Doch die eigentliche Hauptdarstellerin und Erzählerin in „La edad media“ ist Cleo. Unbemerkt vom elterlichen Aktionismus, entwickelt sie in der Krise ihr eigenes Geschäftsmodell. Ziel des Mädchens ist die Anschaffung eines professionellen Teleskops, mit dem sich beim nächsten Vollmond auf der Dachterrasse der Nachthimmel beobachten ließe.
Bei der Umsetzung ihres Plans ist ihr Moto behilflich, ein behelmter Motorrad-Kurier und in diesen Zeiten der einzige reale Kontakt zur Außenwelt. Erst verschwinden Skateboard, Turnschuhe, Bilder und Bücher. Dann versetzt Cleo bald den kompletten Hausstand. Denn inmitten des absurden Theaters galoppiert die Inflation in Argentinien ganz real davon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!