Mehr als 100.000 Neuinfektionen: Impfen vor der Welle im Herbst
Wegen rapide steigender Coronazahlen gewinnt auch die Debatte um eine Impfpflicht an Fahrt. Der Gesundheitsausschuss berät in einer Sondersitzung.
Die Omikron-Variante des Coronavirus sorgt für drastisch steigende Infektionszahlen in Deutschland. Das Robert-Koch-Institut (RKI) registrierte bis Mittwochmorgen über 110.000 Neuinfektionen bundesweit, die Inzidenz stieg auf 584,4 Fälle je 100.000 Einwohner:innen innerhalb der vergangenen Woche. Ein neuer Rekordwert. Angesichts dieser Entwicklungen nimmt die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht weiter Fahrt auf.
Der Gesundheitsausschuss im Bundestag kam zu einer Sondersitzung zusammen. Der Ausschuss tagt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums bestätigte gegenüber der taz, dass die „Corona-Lage“ Inhalt gewesen sei. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nahm an der Sitzung teil. In einer Mitteilung des Bundestags heißt es, der Minister sehe mit der Omikron-Variante in der Coronakrise einen Schlüsselmoment erreicht.
Allein mit der doppelten Impfung sei die Verbreitung des Virus nicht zu verhindern. Eine Auffrischung sei daher nötig. Lauterbach zufolge arbeiten die Firmen Biontech, Pfizer und Moderna derzeit an einem Omikron-spezifischen Impfstoff, der vermutlich im Mai in größerer Menge verfügbar sein wird.
Allerdings wies Lauterbach auch auf die Möglichkeit einer „rekombinierten Variante“ hin. Eine solche Variante mit Eigenschaften aus Delta und Omikron könne gefährlich sein. Mit dem Höhepunkt der Omikron-Welle rechnet er Mitte Februar. Ende Februar oder Anfang März könnten die hohen Fallzahlen auf die Intensivkapazitäten durchschlagen. Bereits am Dienstagabend hatte Lauterbach im TV-Sender RTL erneut für eine rasche Umsetzung der Impfpflicht für alle Bürger:innen ab 18 Jahren geworben. „Wenn wir einen Antrag machen wollen, der noch funktioniert, dann setzt er die Impfpflicht im April in Kraft, vielleicht im Mai.“
Grünen-Gesundheitssprecher weiter für Impfpflicht
Wegen der Zeit, die zwischen den Impfungen verstreichen muss, seien sonst viele derzeit noch Ungeimpfte im Herbst immer noch nicht geboostert – und der Omicron-Variante so weitestgehend ausgeliefert. „Es muss schnell geschehen, damit ich die Welle im Herbst noch abwenden kann.“
Die Ampel-Koalition will den Bundestag ohne Fraktionszwang über einen noch einzubringenden Antrag zu einer solchen Regelung abstimmen lassen, weil es sich um eine sensible ethische Frage handele. Viele Abgeordnete von SPD und Grünen befürworten eine solche allgemeine Impfpflicht mittlerweile, in der FDP-Fraktion gibt es sowohl eine Gruppe, die eine solche Regelung komplett ablehnt, wie auch eine Gruppe, die eine Pflicht ab Bürger:innen 50 Jahren für sinnvoll erachtet.
Unklar ist, ob sich an der Haltung der Skeptiker:innen etwas ändert, wenn die Infektionszahlen weiter deutlich steigen. Die Befürworter:innen machen aber Druck. Der Gesundheitspolitische Sprecher der Grünenfraktion, Janosch Dahmen, sagte der taz: „Ich bin weiter der Auffassung, wir brauchen eine allgemeine Impflicht.“ Mit einer solchen Regelung gehe es nicht darum die aktuelle Omikron-Welle zu bremsen, aber es zeige sich, dass man voraussichtlich nur so „aus dem Hamsterrad immer neuer Virusvarianten und dann notwendiger Schutzmaßnahmen“ ausbrechen können. Ziel müsse sein, die Impfpflicht „gewissenhaft und zeitnah“ im Bundestag zu beraten.
Stiftung Patientenschutz äußert sich kritisch
Seine Parteikollegin Kirsten Kappert-Gonther, Vizevorsitzende des Gesundheitsausschusses, äußerte sich zurückhaltender: „Eine Impfpflicht für Erwachsene schützt nicht nur individuell, sondern auch die Gesellschaft insgesamt.“ Eine solche Regelung nehme auch den Staat in die Pflicht, „flächendeckende Impfangebote bereitzustellen sowie Informationen und Aufklärung mehrsprachig und zielgruppenspezifisch anzubieten und so für ein Impfrecht zu sorgen.“ SPD-Fraktionsvize und Mitglied im Gesundheitsausschuss Dagmar Schmidt mahnte an, auf die Entwicklung in den Kliniken zu achten und die Booster-Impfkampagne voranzutreiben.
Der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisierte gegenüber der taz das Impfangebot der Bundesregierung. Die Virusvarianten seien schneller als das Impfangebot. Skeptisch sieht er eine allgemeine Impfpflicht. „Schließlich kann aktuell niemand sagen, wie viele Impfungen dafür notwendig sein werden. Ganz abgesehen von organisatorischen und verfassungsrechtlichen Problemen.“
Ungeklärt ist ohnehin, wie eine Impfpflicht kontrolliert und umgesetzt werden kann. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung sei es den Praxen nicht zuzumuten, staatliche Maßnahmen gegen den Willen ihrer Patient:innen durchzusetzen. Sie lebten vom Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. „Auch eine Art Pflicht-Beratung, um sich als Impf-Unwilliger bemüht zu zeigen und von Bußgeldern freizumachen, kommt nicht infrage“, erklärte der Vorstandsvorsitzende der KBV, Andreas Gassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“