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80 Jahre Wannsee-KonferenzVom Wannsee nach Charlottesville

Was geschah wirklich? Wie ist der aktuelle Umgang mit der NS-Geschichte? Eine Tagung in der Villa Wannsee spannt den Bogen zwischen diesen Fragen.

Die Villa Wannsee beherbergte bis Ende der 1980er Jahre ein Kinderheim des Berliner Bezirks Neukölln Foto: dpa/Annette Riedl

Was bleibt?“, so lautete der Titel einer internationalen dreitägigen Tagung, zu der die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz anlässlich des 80. Jahrestags des berüchtigten Treffens geladen hatte. Bevor diese Fragestellung beantwortet werden kann, sollte freilich zunächst einmal geklärt werden, was damals überhaupt geschehen ist.

Eines jedenfalls nicht: In Fachkreisen ist schon seit Jahrzehnten Konsens, dass dort eben nicht die „Endlösung“, also die Ermordung aller europäischen Juden im deutschen Einflussbereich beschlossen wurde. Dennoch bleibt diese falsche Interpretation bis heute lebendig – auch unter Besuchern der Gedenkstätte.

Diese führt auch zu einer überhöhten Projektion des Ereignisses. War das historische Ereignis am Ende also gar nicht so schlimm, wenn sie erfahren, dass es um die Organisation des Mordes an bis zu elf Millionen Juden ging? Das ist eine Frage, die sich an die Museumspädagogik richtet.

Aber ist die These von der Planung des Holocaust auf der Wannsee-Konferenz überhaupt so richtig? Dan Diner stellte diese Frage aller Fragen gleich zu Beginn der Berliner Tagung. Und der emeritierte Historiker verwies dabei auf einen auch schon dreißig Jahre alten Aufsatz des verstorbenen Eberhard Jäckel. Tatsache ist: Es gab vor 80 Jahren im Haus am Wannsee keinen förmlichen Beschluss.

Holocaust wurde schon früher eingeleitet

Der Massenmord an den Juden war Monate zuvor in Gang gesetzt worden, insbesondere durch die Einsatzgruppen in der Sowjetunion, die dort bereits Hunderttausende erschossen hatten. Die Planungen für die Vernichtungslager Treblinka, Sobibor und Belzec im Osten des besetzten Polen liefen. In Chełmno waren die ersten Gaswagen im Einsatz.

Deutschen Juden war im Herbst 1941 nicht nur die so lange propagierte und erzwungene Auswanderung verboten worden, die ersten Transporte aus deutschen Großstädten hatten das Reich bereits in Richtung Łódź, Riga und Minsk verlassen, mehr als eintausend Berliner Juden waren nahe Riga bei ihrer Ankunft erschossen worden, ganz zu schweigen von den Tausenden einheimischen Juden, die die SS im Ghetto der Stadt zuvor ermordet hatte.

Wozu bedurfte es da noch einer Konferenz, noch dazu angesichts der Tatsache, dass diese offenbar gar nicht so eilbedürftig war, hatte man sie doch ursprünglich schon für den Dezember 1941 vorgesehen?

Die Antwort, so Jäckel damals und Diner heute, fände sich in der Person desjenigen, der zu der Tagung eingeladen hatte: Reinhard Heydrich. Schon im Sommer 1941 war der Chef der Sicherheitspolizei und des SD dazu ernannt worden, eine „Gesamtlösung der Judenfrage vorzubereiten“.

„Vermählung von Ideologie und Bürokratie“

Angesichts der notorischen Kompetenzstreitigkeiten und Eifersüchteleien innerhalb der NS-Elite wie der Ministerialbürokratie sei es am Großen Wannsee darum gegangen, diese Bestallung Heydrichs gegenüber denjenigen Machteliten deutlich zu machen, die schon zuvor zentral an der Drangsalierung der Minderheit mitgewirkt hatten.

Bei der Wannsee-Konferenz, so Dan Diner, handelte es sich um eine „Vermählung von Ideologie und Bürokratie“. Der ideologisch begründete Judenmord musste mithilfe der Bürokratie umgesetzt werden. Die ganze Konferenz aber diente als „choreographierte Inszenierung“ der verdeckten Mitteilung an die im Protokoll „Zentralinstanzen“ genannten staatlichen Institutionen: Reinhard Heydrich besaß im Prozess dieses nie dagewesenen Massenmords die „Federführung“.

Die Dimension dieses Verbrechens ist heute unstrittig. Die lange Nachkriegsgeschichte bis zur Errichtung der Gedenkstätte an diesem Täterort verdeutlicht zugleich, wie wenig der Holocaust in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik thematisiert worden ist – die Villa am Wannsee beherbergte noch bis zum Ende der 1980er Jahre ein Kinderheim des Berliner Bezirks Neukölln, und groß waren die Widerstände, als es darum ging, dort einen Ort des Erinnerns einzurichten.

Noch bis zu Beginn der 1960er Jahre blieb das Protokoll der WannseeKonferenz in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, keiner der damaligen Täter mit Ausnahme von Adolf Eichmann musste sich vor Gericht wegen der Teilnahme an der Tagung verantworten – ein „Justizversagen“ nannte das der Historiker Norbert Frei.

Künftige Stärkung der Gedenkstätten

Mit Beifall wurde deshalb die Erklärung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) aufgenommen, in der sie eine Stärkung der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen ankündigte. Erinnern beschränke sich nicht auf Zuschauen, sondern bedeute, Zukunft zu gestalten, sagte Roth in einem Grußwort an die Tagung. Gedenkstätten seien Teil der kulturellen Landkarte Deutschlands und bedeutende Orte des Lernens.

Wie aber mit der Geschichte umgehen? Solle es bei der Analyse des damaligen Geschehens bleiben oder zwingen die rechtsradikalen Tendenzen in der heutigen Gesellschaft nicht gerade dazu, Erinnern auch als Aufgabe der Auseinandersetzung mit dem Heute zu begreifen? Die designierte Antisemitismus-Beauftragte von US-Präsident Biden, Deborah Lipstadt, vertrat da eine eindeutige Position: Haltung zeigen!

Ebenso wie bei den Tätern von 1942 zählt die Tarnung von Begriffen bis heute zum Handwerkszeug von Antisemiten

Lipstadt rief zunächst die verdeckte Sprache ins Gedächtnis, die die Täter von 1942 verwendet hatten: „Evakuierung“ stand für die Deportation, „Endlösung“ benannte den Massenmord selbst. Und sie zeigte an zwei Beispielen auf, dass diese Tarnung der Begriffe bis heute zum Handwerkszeug der Antisemiten zählt.

Im Jahr 2000, als Lipstadt von David Irving wegen Beleidigung und übler Nachrede verklagt wurde, weil sie diesen einen Holocaustleugner genannt hatte, konnte sie nachweisen, dass Irving als Geschichtsfälscher und Antisemit bezeichnet werden kann.

Antisemitische Begrifflichkeiten

Schon damals spielten unangebrachte Vergleiche eine große Rolle. Irving argumentierte etwa, dass in Auschwitz weit weniger Menschen ums Leben gekommen seien, und überhöhte dafür die Zahl der Opfer beim Angriff der Alliierten auf Dresden 1945. Sein Ziel war es, den Mord an den Juden zu minimieren.

Nicht viel anders gestaltete es sich 17 Jahre später in Charlottesville, als Rechtsextremisten unter dem Motto „Unite the Right“ zusammen kamen. Ihre wahren Ziele verschleierten sie, so Lipstadt. Schon im Vorfeld hätten die Organisatoren angeordnet, auf Hakenkreuzflaggen zu verzichten. Aus dem Ruf „Jews will not replace us“ machten die Anhänger der Lüge vom „großen Austausch“ „You will not replace us“, um in der Öffentlichkeit einen gemäßigteren Eindruck zu vermitteln.

Deborah Hartmann, die Leiterin der Gedenkstätte am Wannsee, machte deutlich, dass gerade die Berücksichtigung heutiger neonazistischer Tendenzen bei der Vermittlung dessen, was damals geschah, auf großen Zuspruch bei der jüngeren Generation stoße.

Womit wir bei Vergleichen angelangt wären, einem Thema, das trotz oder gerade aufgrund der unerhörten Dimension des Holocaust immer wieder zur Sprache kommt: von rechts, um Taten der Nazis zu minimieren und Juden als Profiteure ihrer eigenen Vernichtung abzuqualifizieren, von links, um Israel zu brandmarken, und von Geno­zidforschern, um eine Kontinuitätslinie zwischen Kolo­nialismus und NS-Herrschaft zu ziehen.

Kolonialismus-Vergleiche

Gegen solche Vergleiche sei an sich nichts einzuwenden, meinte Dan Diner, solange die richtigen Vergleiche gezogen und nicht Unvergleichliches verglichen würde. Deutlicher wurde Sybille Steinbacher vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt, die die These von der kolonialen Gewalt als Vorgeschichte des Holocaust vehement zurückwies. Diese „monokausalen Deutungen“ ohne Berücksichtigung anderer Faktoren, in der die Holocaustforscher provinzialisiert werden, gingen fehl.

Denn weder fänden sich unter den NS-Massenmördern bis auf wenige Ausnahmen solche mit Kolonial­erfahrung noch spielte der Kolonialismus im NS-Machtapparat mehr als eine randständige Bedeutung. Im Gegenteil habe der Nationalsozialismus mit Traditionen, darunter kolonialen Vorstellungen, gebrochen.

Steinbachers Fazit: Es ist schon richtig, den Holocaust in die Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einzuordnen – aber es gebe beim Judenmord eben doch „einmalige Besonderheiten“. Die Singularität des NS-Verbrechens hieße nicht, Vergleiche zu verbieten. Aber der Holocaust mit seiner schrankenlosen Gewalt, dem Willen, eine Welt ohne Juden zu erschaffen, und der Einbeziehung der ganzen Volksgemeinschaft sei keinesfalls eine Spielart des Kolonialismus.

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8 Kommentare

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  • Wenn man sich bewusst macht, dass es in Deutschland seit 1945 JEDES JAHR mindesten einen gewalttätigen Übergriff gegen Juden gab, und es in diesem Land nicht einen einzigen jüdischen Friedhof gibt, der nicht mindestens einmal geschändet wurde - wenn man dann aber auch bemerkt, dass jedes Jahr beim nächsten antisemitischen Anschlag so getan wird, als sei das etwas ganz unerhörtes, nie dagewesenes, ein "Ausreisser" - weil man schon vergass, dass das Jahr davor und das Jahr davor... Dann merkt man, dass das Verdrängen des industrialisierten Massenmords, die Versuche, ihn mit Kolonisierung gleichzusetzen (auch ein Verbrechen, aber eben ein ganz anderes!) um ihn zu minimieren, nur eine Facette ist. In Wahrheit ist Antisemitismus und die Gleichgültigkeit, ja, die stillschweigende Akzeptanz sogar, nach wie vor hierzulande gang und gäbe. Und wenn man nix gegen Juden sagen will, bezichtigt man halt den Juden unter den Staaten, alles Böse dieser Welt anzustellen. Nebenbei, perfider und vollkommen geschichtsvergessener Weise, bezichtigt man Israel sogar des Kolonialismus!

  • Zitat: „Noch bis zu Beginn der 1960er Jahre blieb das Protokoll der WannseeKonferenz in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, keiner der damaligen Täter mit Ausnahme von Adolf Eichmann musste sich vor Gericht wegen der Teilnahme an der Tagung verantworten – ein „Justizversagen“ nannte das der Historiker Norbert Frei.“

    Wer zu DDR-Zeiten den Lesesaal der Ost-Berliner Universitätsbibliothek in der heutigen Dorotheensraße betrat, stolperte buchstäblich ostentativ über die unmittelbar am Eingang aufgestellten 23 Bände mit den Akten der Nürnberger Prozesse gegen die Spitzenverbrecher des politischen, militärischen und wirtschaftlichen Establishments Deutschlands unter der Hakenkreuzlerherrschaft, darunter das Protokoll der Wannsee-Konferenz. Also ganz so „unbeachtet“ war das Protokoll dann folglich nun auch wieder nicht, zumindest in einem bestimmten Teil der deutschen Öffentlichkeit. Übrigens waren die 23 Bände der Nürnberger Prozesse am Lesesaaleingang der Berliner Universitätsbibliothek gleich nach der Wende genau so ostensativ verschwunden...







    Der Blick auf die in der Ausstellung der Gedenkstätte dokumentierten Biografien der Teilnehmer an diesem Treffen fördert eine weitere bezeichnende Tatsache zu Tage: Keiner der sechs Konferenzteilnehmer, die das Jahr 1946 überlebten, hatte seinen Wohnsitz danach in der SBZ/DDR genommen, wohl in der berechtigten Hoffnung, unter den Fittichen der West-Alliierten ungeschoren davonzukommen, was sich ja dann später auch als zutreffend herausstellen sollte...

  • „Furchtbare Juristen“

    Zitat: „Noch bis zu Beginn der 1960er Jahre blieb das Protokoll der WannseeKonferenz in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, keiner der damaligen Täter mit Ausnahme von Adolf Eichmann musste sich vor Gericht wegen der Teilnahme an der Tagung verantworten – ein „Justizversagen“ nannte das der Historiker Norbert Frei.“

    Dies allein wäre eine eigenständige Tagung wert gewesen und weniger die Frage, welchen Stellenwert dieses Wannsee-Konferenz genannte Frühstücks-Treffen der Funktionselite der Todes-Technokraten in der Abfolge von Idee, strategischer Planung und adminstrativ-bürokratischer Exekution einnahm, eine vergleichsweise marginales Problem in Bezug auf die ganze Dimension dieser in der Menschheitsgeschichte singulären systematischen und mit ausgeklügeltem industriellen Know How kalten Blutes exekutierten Massentötung. Nein, die Justiz hat damals nicht „versagt“, sondern ist nur konsequent dem tradierten Pfad gefolgt, dessen Leitplanken und Richtungsschilder sich seit dem 2. Reich nicht grundlegend verändert hatten. Noch so ein Tagungsthema.

    (Näheres bei Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Kindler-Verlag, München 1987)

    • @Reinhardt Gutsche:

      anschließe mich - ins tazis-Stammbuch.



      Nothing else •



      Danke & Dank im Voraus.

      • @Lowandorder:

        & - Nicht zu fassen.

        ” Diese führt auch zu einer überhöhten Projektion des Ereignisses.“

        kurz - Herr - wirf 🧠 vom Himmel.



        Hannah Arendt - Harry Mulisch - haben doch nicht umsonst gelebt! Nein •

  • Ich hätte mir Hunderttausende auf den deutschen Strasse im stillen Andenken und Protest gegen rechts gewünscht. Fehlanzeige - Soviel zur deutschen Linken und den sogenannten Antifaschisten.

  • Eine Frage der Bildung?

    Eine bemerkenswerte Kollateralerkenntnis bietet die Dokumentar-Ausstellung der Gedenkstätte mit den Biografien der Teilnehmer. Ihnen fehlte es nicht an Bildung, mehrere unter ihnen wareb sogar promoviert. Dies zur Erinnerung gegen die nicht tot zu kriegenden Legende, eine Affinität zu rechtsrandigen Politikdoktrinen sei nur eine Frage mangelnder Bildung. Es war wohl seit je gerade andersrum: Im II. Reich war es die deutsche akademische Elite, die den Kaiser-Krieg mi besonderem Eifer bejubelte (zumindest zu Beginn). So heißt es im Aufruf „An die Kulturwelt“ vom 4. Okt. 1914: „Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“



    Zu den Unterzeichnern gehörten solch illustre Namen wie Richard Dehmel, Adolf von Harnack, Max Liebermann, Franz v. Defregger, Wilhelm Dörpfeld, Rudolf Eucken, Ernst Haeckel, Gerhard Hauptmann, Max Planck, Max Reinhardt, Paul Ehrlich (sic!), Wilhelm Röntgen, Wilhelm v. Bode, Engelbert Humperdinck, Max Klinger, Ulrich v. Moellendorff usw. Einige von ihnen werden noch heute mit Straßennamen geehrt. Ein weiterer fungiert immer noch als Namensträger für ein dem BMG unterstelltes Gesundheitspolitisches Institut, aktuell in aller Munde.

    Auch das dem Zweiten folgende Dritte Reich erfreute sich dea frenetischen Beifalla der deutschen akademischen Elite, besonders der juristischen, medizinischen und technischen. Sie war für die Exekutierung der Teufelspläne der Hakenkreuzler unverzichtbar, v. a. der „Operation Barbarossa“, des „Generalplans Ost“ und der Shoa.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Danke. Für den immer wieder zu lobenden Versuch - nicht nur aber auch einem reichlich unbedarften Sühnespezialisten Klaus Hillenbrand*59 - “etwas an die Hand zu geben“ - wie es in Westfälisch Sibirien so schön bildhaft heißt. Seine Film-Besprechung paar Blätter weiter aber -



      taz.de/Die-Wannsee...932&s=Hillenbrand/



      läßt erneut auf bannig Lernresistenz schließen.



      Nunja - wir werden die Hoffnung nicht aufgeben.



      (Auf den Vollhufen meiner Altvorderen - konnte ich schon als Junge*45 - nicht umsüß “van hartmäulig Pier🐴 veel liern!“;) Aber Hallo!

      Soweit mal