: „Gärten schaffen Frieden“
Wo manche nur Bäume, Blumen und Beete erkennen, sehen andere die Chance, die Menschen glücklicher zu machen. Gärten sind Heimat, wusste schon die Berliner Pionierin des Gartenbaus, Henny Rosenthal. Sie und ihr Sohn Karl Linn haben den Städtern die Augen geöffnet: Unterm Pflaster blüht etwas
VON ELISABETH MEYER-RENSCHHAUSEN
Ringelblume, Nachtkerze, Fingerhut – in Berlins grünen Stadtteilen liegt das Parfüm üppiger Blüten schwer in der Abenddämmerung. Der Sommer duftet, selbst in einer Großstadt mit so wenig Gartenland wie Berlin. Nur fünf Prozent der Berliner haben selbst einen Hausgarten, nur jeder fünfte Hauptstadtbewohner hat einen Kleingarten gepachtet. Aber Gartenkunst wurde hier erfunden oder zumindest neu erfunden. Denn seit über hundert Jahren gehören die Berliner Gartenfans zu den Pionieren des neuen Gärtnerns. Was anderswo Rübensäen und Unkrautzupfen blieb, wurde hier allerdings gleich zu einer gründlichen Bewegung. So umfassend, dass sie sogar Erwerbslosen zu Jobs oder Migranten zu Grabeland verhalf – und immer noch verhilft.
Dass Gärtnern anno 1900 eine Sache der Frauen war, ist heute eher Spezialwissen. Eine der Pionierinnen der Bewegung war um die Jahrhundertwende Henny Rosenthal aus der Uhlandstraße in Charlottenburg. Henny stammte aus einer angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie, wie ihre Tochter Bella Kalstein erzählt. Nach ihrem Abitur arbeitete Henny als erste ausgebildete Prokuristin an der Berliner Börse. „Da sie aber“, so Bella Kalstein, „in ihrem Leben bestimmte pädagogische Ideale im Einklang mit der Natur verwirklichen wollte“, sattelte Henny kurzerhand um. Sie besuchte die Frauengartenbauschule des Kaiserreichs, die „Obst- und Gartenbauschule für gebildete Mädchen und Frauen“ in Mariendorf bei Berlin.
Die Idee, das Gärtnern als Frauenberuf zu etablieren, hatte bereits die dortige Schulleiterin und Frauenrechtlerin Elvira Castner von ihrer Studienzeit in den USA mitgebracht. 1894 eröffnete sie in Berlin-Friedenau die erste Gärtnerinnenschule – und wurde förmlich von Aspirantinnen überrannt. So groß war der Andrang, dass sie schon bald mit ihrem Institut auf eine größere Fläche nach Mariendorf umziehen musste.
Nach ihrer Ausbildung absolvierte Henny Rosenthal ein Praktikum in einem belgischen Waisenhaus. Die junge Frau war berauscht von der Idee einer sanften Gesellschaftsreform, wie sie sie bei SozialistInnen wie Lily Braun oder Anarchisten wie Karl Landauer entdeckt hatte. Und sie war erfüllt von den reformpädagogischen Ideen ihrer Zeit. „Ihr schwebte vor, mit Waisen und behinderten Kindern zu gärtnern, da sie die therapeutische Wirkung von Gartenarbeit erkannte“, erzählt die Tochter.
Als Henny Rosenthal erfuhr, dass eine Landgesellschaft im Berliner Umland Bodenreform-Gründe zum Verkauf an Neusiedler anbot – kaufte sie. Rund 20 Morgen. Zusammen mit ihrer Mutter zog sie 1913 in das noch nicht ganz fertige Haus. Sie ließ Bodenproben nehmen, um zu prüfen, welche Art Agrarkultur möglich wäre.
Henny war damals nicht die einzige Abiturientin, die „zurück aufs Land ging“. Die hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Not, bis hinein ins Bildungsbürgertum, sowie die zahllosen Opfer der osteuropäischen Judenprogrome, die nach Berlin geflohen waren, führten im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg dazu, dass viele Menschen Zuflucht auf dem Land suchten. Die Jewish Agency erwarb Land im Osmanischen Reich, um die Geflohenen darauf anzusiedeln. Und Bodenreformgesellschaften kauften überall in Mitteleuropa Land auf. Namhafte Intellektuelle wie Max Weber oder Franz Oppenheim hatten schon seit Jahren die unselige Politik der staatlichen Subventionierung maroder Rittergüter im Osten heftig kritisiert. Sie empfahlen stattdessen eine Siedlungspolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und andere Reformmaßnahmen.
Henny Rosenthal richtete eine Erwerbsgärtnerei ein. Sie begann mit Gemüseanbau für die Eigenversorgung und verkaufte ihre Ernte zunächst an einige jüdische Institute, das KaDeWe und das Kempinski. Ihre 2.000 Kirsch- und Apfelbäume brauchten ein paar Jahre, bis sie trugen. Henny nannte ihren Hof „Immenhof“, denn Bienen gehörten für die Bestäubung der Obstbäume dazu. Schon bald wurde ihr Betrieb als Mustergut ausgezeichnet.
Die junge Berlinerin betrieb ihre Gärtnerei mit Hilfe örtlicher Arbeitskräfte, meistens Frauen und Lehrlingen. Da sie Wert auf Gemeinschaft legte, aßen sie und ihre Familie stets gemeinsam mit ihren Arbeiterinnen. Rosenthal blieb jedoch auch mit ihren Berliner Freunden in Kontakt und lernte so den Bibliothekar der Jüdischen Gemeinde, Jossel Lin, kennen. 1922 heiratete sie den Witwer und nahm seine drei Kinder aus dem Internat zu sich. 1923 kam dann als Jüngster Ulrich Karl dazu, der die mütterliche Freude am Garten geerbt zu haben schien.
Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam der Großhändler bei ihnen vorbei, erinnert sich Bella Kalstein. Er sagte, „dass es bedauerlicherweise nicht mehr erlaubt sei, aus jüdischer Produktion zu kaufen“. Eine rabiate Hausdurchsuchung seitens der Gestapo bewegte Hennys Mann Jossel Lin, dem als russischem Juden die preußische Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, zur sofortigen Flucht nach Palästina. Henny Rosenthal blieb mit Tochter Bella und Sohn Karl noch ein Jahr bei Berlin. Um ihren Hof zu verkaufen, wie sie sagte, für den sie schließlich noch ein Achtel des ursprünglichen Werts erhielt. Diesen Schmerz konnte Bella kaum überwinden, sie starb 1944 in Palästina.
Tochter Bella hatte das Gärtnern noch in Berlin-Dahlem gelernt, Sohn Karl machte später im ältesten Kibbuz, Degania, seine landwirtschaftliche Lehre. Anschließend studierte er Landschaftsarchitektur, verließ aber bald darauf das Heilige Land, denn „der Umgang mit den arabischen Kleinbauern erinnerte ihn schmerzlich an den Umgang der Nazis mit seiner Familie“, erzählt die Schwester.
Von der Schweiz, wohin Karl Lin ging um sich bei C. G.Jung und Wilhelm Reich als Kinderanalytiker ausbilden zu lassen, wanderte er weiter in die USA. In New York arbeitete er zunächst als Kindertherapeut, dann aber als freier Landschaftsarchitekt. Linn, wie sich Karl nun nannte, lehrte ab 1959 an der University of Pennsylvania.
Von den Gedanken seiner Mutter inspiriert, ging er der Frage nach, wie auch den Armen ein verbesserter Zugang zum Grün zu ermöglichen wäre. Karl, der zudem das Durchsetzungsvermögen seiner Mama geerbt hatte, wurde bald zu einem der Initiatoren der nordamerikanischen „Community Gardening“-Bewegung. Ob in New York, Chicago oder San Francisco – seit den Flower-Power-70er-Jahren verwandeln Neighborhoods vermüllte Brachen in Gemeinschaftsgärten und schaffen so kleine Oasen inmitten des Großstadtdschungels. Doch nicht nur um hübsche Fantasiegärten ging es in den amerikanischen Gettos, sondern schlichtweg auch um Möhren, Tomaten und anderes Gemüse zur täglichen Ernährung.
Seit 1993 half Karl Linn in seinem Wohnort Berkeley, Kalifornien, Brachen in florierende Paradiese zu verwandeln. Anwohner verschiedenster Milieus schufen in ehrenamtlicher Arbeit Parks und bauten Gemüse an. Menschen, die sonst nie miteinander reden würden, wühlten plötzlich im gleichen Blumenbeet und freuten sich gemeinsam über die ersten Knospen. „Gärten schaffen Frieden“ war denn auch Karl Linns Credo. Als Flüchtling hatte er selbst erfahren, dass auch Migranten Grün brauchen, um sich an ihrem neuen Wohnort heimisch fühlen zu können. Karl Linn ist in diesem Februar im Alter von 80 Jahren gestorben. Es hätte ihn sicherlich gefreut, wenn er noch hätte erfahren können, dass nach über 15-jährigem Kampf in Berlin die Brache des Gleisdreieckgeländes endlich den Anwohnern als selbst zu gestaltende Grünfläche übergeben werden wird.
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