: Einzelhaft für Homosexuelle
Eine Ausstellung liefert die Fakten zum Film „Große Freiheit“ und zur Verfolgung von Schwulen in der jungen Bundesrepublik unter dem Strafrechts-Paragrafen 175
Von Joachim Göres
„Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Ein Satz aus dem Paragrafen 175, der seit 1871 sexuelle Handlungen zwischen Männern in Deutschland unter Strafe stellte. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragrafen, indem sie auch Blicke, Berührungen und Küsse verboten und längere Haftstrafen ermöglichten. Und selbst in der jungen Bundesrepublik mussten schwule Männer noch wegen sexueller Beziehungen häufig ins Gefängnis – daran erinnert dieser Tage der gefeierte Spielfilm „Große Freiheit“. Die Fakten zur Fiktion in dem Film von Sebastian Meise liefert die Dauerausstellung der Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Wolfenbüttel.
Im einstigen Strafgefängnis Wolfenbüttel wurden in der NS-Zeit 527 Häftlinge hingerichtet, weitere 500 Menschen starben an den Folgen ihrer Behandlung. Ernst Nobis (1899–1982) landete 1942 im Strafgefängnis, nachdem er wegen eines Kusses und der Berührung eines Mannes zu 18 Monaten Haft verurteilt worden war. Nach Verbüßung der Strafe drohte ihm Vorbeugehaft und die Übergabe an ein Konzentrationslager. Um in Freiheit zu kommen, erklärte sich Nobis zur „Entmannung“ bereit. Nach der Kastration litt er unter Angstzuständen und beantragte 1949 Wiedergutmachung, die abgelehnt wurde. Der Paragraf 175 war in der Bundesrepublik weiterhin gültig.
Die Konsequenzen präsentiert die Ausstellung eindrücklich. Zu sehen ist eine Zeichnung aus der Zeitschrift Die Freundschaft von 1951, auf der sich in einer Gefängniszelle eine trauernde Person über schwarze Särge beugt, über ihr schwebt drohend die Zahl 175. Die Darstellung kommentiert die Frankfurter Homosexuellenprozesse. In mehr als 240 Fällen wurde ermittelt, rund 100 Männer kamen in Haft, mindestens sechs nahmen sich nach ihrer Vorladung das Leben. Wer in Verdacht geriet, ein „warmer Bruder“ zu sein, war oft gesellschaftlich erledigt – auch ohne juristische Verurteilung drohten der Verlust der Arbeit und die Abkehr der Familie.
Die Historikerin Maria Bormuth hat einige Fälle rekonstruiert und in der Schriftenreihe der Gedenkstätte Wolfenbüttel veröffentlicht (ISBN 978-3-946991-06-9). René Maikowski wurde 1956 wegen Unzucht mit einem Mann unter 21 Jahren zu zehn Monaten Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Strafgefängnis Wolfenbüttel konnte er nicht mehr als Lehrer tätig sein. Laut eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichtes von 1966 durfte einem homosexuellen Mann zurecht sein Beamtenstatus aberkannt werden. Drei Jahre später sprachen sich 46 Prozent der Westdeutschen dafür aus, dass homosexuelle Handlungen „auch in Zukunft strafrechtlich verfolgt werden sollten“, 36 Prozent lehnten dies ab.
Gerhard Wiedemann wurde dreimal aufgrund des Paragrafen 175 zu mehrmonatigen Strafen verurteilt. 1966 musste er eine achtmonatige Haftstrafe in Wolfenbüttel antreten. Acht Monate Haft bedeuteten für Wiedemann acht Monate Einzelzelle – für schwule Gefangene wurde der Kontakt zu anderen Inhaftierten beschränkt, damit sie diese nicht „ansteckten“. „Man hat darauf geachtet, dass man die Leute, die von der Arbeit kamen, gleich weggeschlossen hat“, erinnert sich der ehemalige Justizbeamte Hartmut Schulz.
Homosexualität galt bei vielen als „krankhafte Veranlagung und Abartigkeit“. So formuliert es der Wolfenbütteler Anstaltspastor Alexander Rohls. Bormuth zitiert seine Autobiografie von 1984, in der er von seinem Einsatz zur vermeintlichen Besserung von homosexuellen Gefangenen berichtet. Dazu sollten Therapien, Hormonbehandlungen und Kastrationen beitragen. In einem Fall überzeugte Rohls einen schwulen Inhaftierten von der „freiwilligen Entmannung“. Der Pfleger war wegen „wiederholter Unzucht“ zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Im April 1962 führte ein Wolfenbütteler Arzt die Kastration durch. Danach kam es laut Gefängnispsychologen „im häufigen Wechsel sowohl zu euphorischer Überhöhung als auch zu Suizidgedanken“. Der Pfleger wurde vorzeitig aus der Haft entlassen – nach der Operation sei er ja keine Gefahr mehr.
In Niedersachsen wurden zwischen 1952 und 1969 wegen homosexueller Handlungen rund 2.000 Männer verurteilt. Bundesweit wird ihre Zahl auf etwa 50.000 geschätzt. Der Paragraf 175 wurde erst 1969 so geändert, dass einvernehmliche sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern nicht mehr als Straftat galten. 1994 wurde der Paragraf dann abgeschafft. Erst 2017 wurden die ergangenen Urteile aufgehoben. Auch eine Entschädigung für die Betroffenen wurde 2017 beschlossen – die meisten Opfer lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen