Altersbestimmung bei jungen Geflüchteten: Falsches Misstrauen
Junge Geflüchtete müssen sich untersuchen lassen, wenn ihre Minderjährigkeit bezweifelt wird. In Hamburg bestätigte sich 2021 kein einziger Verdacht.
Die medizinische Altersfeststellung wurde damit bei zehn Prozent der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten durchgeführt; insgesamt seien in diesem Jahr 442 in Hamburg in Obhut genommen worden, heißt es in der Antwort weiter. Kein einziges Mal stellte die Rechtsmedizin des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Volljährigkeit fest. In elf der Fälle mussten die Betroffenen Widerspruch einlegen gegen eine zunächst andere Entscheidung.
Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, findet das Vorgehen nicht okay, welches angewandt wird, wenn Geflüchtete keine Dokumente besitzen, aus denen sich ihr Alter zweifelsfrei ergibt. „Es ist ein vorprogrammiertes Misstrauen. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass etwas Falsches gesagt wird.“ Das Verfahren sei belastend und nur „ausnahmsweise bei erheblichen Zweifeln gerechtfertigt“ – jedoch nicht angemessen für den Regelfall. Zehn Prozent untersuchte Jugendliche findet sie zu viel. Und die erfolgreichen Widersprüche zeigten, dass zu Unrecht gezweifelt worden sei.
Die Volljährigkeit ist für junge Geflüchtete ein zukunftsweisender Moment, da ab dem 18. Lebensjahr eine andere Behandlung vorgesehen ist und auch das Dublin-Verfahren greift. Dieses besagt, dass Geflüchtete in das europäische Land zurückgeschickt werden können, in dem sie zuerst registriert wurden. Der Flüchtlingsrat Hamburg ist gegen das Verfahren: „Jeder muss die Wahl haben, in welches Land er oder sie gehen kann“, sagt Cornelia Gunßer. Sie ist Mitglied des Flüchtlingsrates und Landeskoordinatorin vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.
Carola Ensslen,Linksfraktion Hamburg
Die möglichen Folgen der Altersbestimmung können bei eingeschätzter Volljährigkeit gravierend sein, sagt Gunßer. „Das Üble ist, dass diese Geflüchteten alle ihre Rechte als Jugendliche verlieren. Sie können nicht mehr zur Schule gehen, müssen in großen Lagern wohnen und die meisten werden aus Hamburg wegverteilt.“
Hinzu käme, dass die Untersuchungen zur Altersfeststellung keine hundertprozentige Sicherheit geben könnten, so Gunßer. „Eine Altersfeststellung gibt es nicht, auch medizinisch nicht. Es gibt nur Alterseinschätzungen. Bei Unsicherheiten muss zu Gunsten des Betroffenen entschieden werden.“ Das fordert auch Ensslen von der Linken.
Die für das Verfahren zuständige Sozialbehörde und der Landesbetrieb Erziehung und Beratung sagen, dass dies bereits geschehe: „Zweifel werden zu Gunsten des Betroffenen ausgelegt, das heißt es wird jeweils das nach dem Gutachten geringste Lebensalter angenommen“, sagt die Sprecherin der Sozialbehörde, Anja Segert, die der taz für beide Behörden antwortet.
Durch die Untersuchung bestehe der Erfahrung nach keine Gefahr der Retraumatisierung: „Die Beteiligten gehen sehr sensibel mit den jungen Menschen um.“ Die zu Untersuchenden würden immer von Mitarbeitenden des Kinder-und Jugendnotdienstes sowie einem Dolmetscher begleitet; optional auch von einem rechtlichen Beistand oder einer Vertrauensperson.
Die Untersuchungen seien in der Regel schmerzfrei und stellten keinen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Dass in 2021 kein Zweifel durch eine Untersuchung bestätigt wurde, werde laut Segert nichts an der Prozedur ändern.
Cornelia Gunßer war vor einigen Jahren bei Untersuchungen als Begleiterin dabei und kann den sensiblen Umgang nicht ausnahmslos bestätigen. Sie habe mitbekommen, dass die Betroffenen nicht verstehen, warum sie untersucht werden, ohne krank zu sein.
Entwürdigende Untersuchungen
Sie habe auch schon von Fällen gehört, bei denen sich beispielsweise weibliche Geflüchtete vor männlichen Ärzten nackt hatten ausziehen müssen. Dass inzwischen durchgesetzt wurde, dass pädagogische Fachkräfte und Dolmetscher*innen beteiligt sind und den Betroffenen erklärt wird, wie Widerspruch möglich ist, sieht sie als Verbesserung.
Auch für Menschen, die 18 Jahre oder wenig älter sind, sieht Ensslen das Dublin-Verfahren kritisch: „So junge Menschen zurückschicken zu wollen, finde ich angesichts oft schwieriger Fluchtwege schikanös. Man will sich der Leute entledigen.“ Auch ein 18-Jähriger brauche Betreuung und Unterstützung. Selbst wenn also jemand fälschlicherweise minderjährig geschätzt würde, sei dies „kein Weltuntergang“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ende der Ampel-Regierung
Ein Gefühl von Zusammenbruch
Ampelkoalition zerbricht
Scholz will Vertrauensfrage stellen
Ampelkoalition gescheitert
Endlich!
Trumps Wahlsieg in den USA
Gaga für MAGA
Scheitern der Ampelkoalition
Ampel aus die Maus
Trump erneut gewählt
Why though?