Theaterstück „Pfisters Mühle“: Morgen war alles besser
In Braunschweig dramatisiert Rebekka David den frühen Umweltroman „Pfisters Mühle“ als nostalgische Schauergeschichte über zerrüttete Identitäten.
Der Bach bleibt verpestet, die alte Mühle geschlossen, das Großkapital siegreich. Und auch wenn dieser Theaterabend berechtigte Zweifel am Beweinen der Heimat sät – und der guten alten Zeit –, stimmt er doch auch ehrlich wehmütig wegen der Pfisters und ihres Familienbetriebs. Oder doch wenigstens der Umwelt halber, weil der alte Mühlbach doch heute nur noch tote Fische vorbeispült.
„Pfisters Mühle“ gilt als einer der ersten Umwelt-Romane. Anfang der 1880er-Jahre hat Wilhelm Raabe hier die drohenden Verheerungen der Industrialisierung ausgemalt und die Konkurrenz eines kleinen Traditionsbetriebs gegen die Zuckerfabrik aus der großen Stadt beschrieben. Und als Ökogeschichte hätte man wohl selbst die Heimatfrage auch dem Braunschweiger Theaterpublikum unterjubeln können, zumal die Geschichte ja auch noch hier entstanden ist und auf lokalem Geschehen beruht. Allein: Regisseurin Rebekka David hatte für diesen Abend Besseres im Sinn.
Bezeichnend ist der Moment, als Emmy die Nerven verliert. Nina Wolf spielt dieses „sehr junge Weibe“ des Mühlenerben und -verkäufers, mit dem sie raus aufs Land kam, um einen letzten Sommer auf dem Gut und in den Kindheitserinnerungen ihres Gatten zu verbringen. Und so was ist eben anstrengend, weil man die Geschichten irgendwann alle gehört hat, weil das Miteinander mit der Schwägerin nervt und weil man als Fremde eben nicht mitziehen kann, wenn die anderen in familiärer Regression abtauchen.
Und als die Müllerskinder nach ins atmosphärische Zwielicht und in den Bühnennebel gesäuselten „Achs“ und „Jajas“ schließlich beginnen, wieder quakend mit den Enten zu sprechen – da ist das Maß voll und die eigene Geschichte drängt mit Wucht an die Oberfläche.
Obwohl Rebekka David eine moderne Perspektive auf die Erzählung entwickelt, sind die Zweifel und Brüche im Stoff bereits angelegt, und das gar nicht so sehr in der bemerkenswert gegenwärtigen Thematik, sondern in seiner Struktur. Nicht zufällig ist es eine unter angehenden Germanist:innen berüchtigte Fleißarbeit, Raabes verschachtelte Erzähl- und Zeitebenen auseinanderzusortieren: in Binnenerzählungen, Rück- und Ausblicke auf dieses oder jenes. Das leistet nun auch das Stück, nur geht es dem Bühnenspiel weniger um Historizität der Ereignisse, sondern ums Steckenbleiben in einer Vergangenheit, die ihr Versprechen auf Zukunft nicht mehr einlösen konnte.
Ein spukender Vater
Übergroß in traditioneller Müllerstracht schleicht Klaus Meininger als Vater über die Bühne, der zwar tot ist, sich aber nicht exorzieren lässt. Das versucht auch keiner, tatsächlich klammern sich Robert Prinzler und Gina Henkel herzerweichend blöde an die alten Zeiten – an die Rückblenden –, ringen mal halbherzig mit dem Über-Ich, singen dann aber selbstredend doch wieder mit, wenn der Papa sein Weihnachtslied anstimmt.
Dass in Braunschweig der Kunstgriff gelingt, den universellen Familienknast so nahtlos mit Fragen sich wandelnder Gesellschaften zu verzahnen, ist Verdienst einer durchweg großartigen Ensembleleistung: Nur weil es hier allen (und mit allen) so scheinbar leicht von der Hand geht, das Zwischenmenschliche zu beleben, bleibt Luft für die Frage nach dem diskursiven Rest.
Und liegt der Stoff erst werkgetreu auf dem Tisch, dreht der Abend erst richtig auf. Ganz besonders Nina Wolf und Gina Henkel entwickeln den klischeesatten Konflikt von Ehefrau und Schwester (hier die überdrehte Großstadtgöre, da die sich aufopfernde Hysterikerin), lassen den scheinbar zentralen Mann aber zügig beiseite und stürzen sich in wechselseitiger Bissigkeit auf ihre eigenen Probleme und inneren Widersprüche: Kein Wehmut ohne Häme, kein Spott ohne nagende Selbstzweifel.
Zucker gegen das bittere Leben
Die Eskalation geht in die Breite: Das Mühlengerippe aus Pfeilern und Leuchtreklame am Bühnenrand wird nach und nach mit Automaten für Limonade und Schokoriegel bestückt: Vorboten des Zuckerfabrikanten aus Krickerode und Seitenhieb gegen Coca-Cola, Mars, Nestlé und so weiter. Zucker gegen die Bitterkeit des Lebens, heißt es einmal, was hier in einer rauschhaften Fressorgie mündet, über die sich auch jüngere Texte in den Raabe schleichen.
Emmys Wunsch, bei aller Wut dann doch dazuzugehören, wird etwa mit einem Tocotronic-Zitat garniert, während Raabes Binnenlyrik nahtlos in unverhohlenen Nonsense übergeht: „Dunkel wars, der Mond schien helle …“
„Pfisters Mühle: Ein Heimatverein“ ist wieder zu sehen: 3., 5. und 10. 12., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig, Kleines Haus. Weitere Termine und Hinweise zur Corona-Lage auf der Website des Theaters.
Und so stehen sie da am Bühnenrand, die Handlung weit hinter sich, und haspeln in elektrisierender Hektik durch philosophische Monologe über die Fiktionalisierung des Autobiographischen, fragmentierte Ausführungen über Retromanie, Hauntology und was nicht noch. Vielleicht ist es so was wie ein Diskurs der eigenen Diskursivität: Alles ist irgendwie wahr – und wird doch bloßer Sound postmoderner Identitätskrisen. Das klingt anstrengend und ist es auch. Wie das Leben eben.
Seinen Höhepunkt findet der nostalgische Grundton der Inszenierung schließlich in Joe Espositos Schnulzenballade „Lady, Lady, Lady“, die das spätromantische Früher am Mühlbach in einen weich gezeichneten 1980er-Jahre-Film verwandelt: Hundert Jahre nach Raabe, 40 vor heute – und dabei doch so beklemmend wie traumhaft zeitlos.
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