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Inflation in der TürkeiTürkische Lira im freien Fall

Trotz Geldentwertung senkt die türkische Zentralbank ihren Leitzins erneut. Ärmere Menschen leben nur noch von Nudeln, Brot und ein paar Eiern.

Die Menschen in der Türkei, hier auf einem Markt in Istanbul, leiden unter dem Wertverlust der Lira Foto: Erdem Sahin/epa

Istanbul taz | Die türkische Zentralbank hat am Donnerstag auf Druck von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Leitzins erneut gesenkt: Statt zuvor 16 Prozent gelten ab sofort 15 Prozent. Die Zinssenkung war erwartet worden, weil Erdoğan am Tag zuvor in einer Rede vor der AKP-­Fraktion angesichts der dramatischen Wirtschaftskrise des Landes mit markigen Worten weitere Zinssenkungen gefordert hatte. Vor seiner Fraktion hatte Erdoğan gesagt: „Solange ich im Amt bin, werde ich gegen Zinsen und die Inflation kämpfen.“

In der Türkei rechnet des Statistische Amt offiziell mit einer Inflation von 20 Prozent. Unabhängige Experten gehen jedoch davon aus, dass die tatsächliche Inflation rund doppelt so hoch ist und Lebensmittel sogar von einer Inflation von 50 Prozent betroffen sind. Vor allem ärmere Haushalte ernähren sich deshalb nur noch von Nudeln, Brot und gelegentlich einem Ei. „Was anderes“, sagten Markthändler am Mittwoch, „können sich viele gar nicht mehr leisten.“

Die Preise steigen unter anderem deswegen so rasant, weil durch die Zinssenkungen die türkische Lira immer mehr an Wert verliert und Importe deshalb ständig teurer werden. Schon vor der am Donnerstag verkündeten Zinssenkung war die Lira stark unter Druck geraten und verzeichnete immer neue historische Tiefststände im Verhältnis zum Dollar und zum Euro. Für einen Euro musste man 12 Lira zahlen, der Dollar tendierte auf 11 Lira zu. Mit der neuen Entscheidung der ­Zen­tral­bank wird sich die ­Talfahrt der Lira weiter fortsetzen.

Erdoğan ist der Meinung, dass die Inflation durch hohe Zinsen hervorgerufen wird und außerdem die Wirtschaft durch niedrige Kreditzinsen angekurbelt werden soll. In seiner Rede am Dienstag beklagte er aber, dass die türkischen Unternehmer sich trotz seiner Niedrigzinspolitik mit Investitionen zurückhielten. Er scheint aber dennoch entschlossen zu sein, seinen Kurs fortzusetzen.

Erdoğan duldet keine Kritik

„Mit Leuten, die die Zinsen erhöhen wollen, kann ich nicht zusammenarbeiten“, sagte er. Aus diesem Grund hat er seit 2019 bereits drei Zentralbankchefs gefeuert, der amtierende Chef Şahap Kavcıoğlu ist ein reiner Befehlsempfänger. Deshalb hat er seit seiner Berufung im März auch bereits dreimal den Leitzins gesenkt, jeweils mit verheerenden Folgen für die Lira.

Allein in diesem Jahr ist der Wert der Lira im Verhältnis zum Dollar um ein Drittel gefallen. Der einzige Minister, der Erdoğans Kurs noch gelegentlich zumindest indirekt kritisiert, ist Finanzminister Lütfi Elvan. Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan ihn demnächst entlassen wird.

Denn Kritik an seiner Wirtschaftspolitik duldet Erdoğan nicht. Just am Donnerstag standen 39 Personen, darunter sechs Journalisten, in Istanbul vor Gericht, weil sie vor drei Jahren im Kurznachrichtendienst Twitter angekündigt hatten, der Dollar würde bald 10 Lira kosten, wenn Erdoğan seinen Kurs fortsetze. Sie sind wegen Verunglimpfung und Panikmache angeklagt. Jetzt kostet der Dollar bereits 11 Lira.

Der Analyst Timothy Ash von BlueBay Asset Management sagte der französischen Nachrichtenagentur AFP, Erdoğans Wirtschaftskurs sei „wirklich gefährlich für die Lira und die Türkei“. Die Zinssenkung sei „ein buchstäblich verrückter Schritt“, erklärte Ash laut Reuters.

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8 Kommentare

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  • Obs gefällt oder nicht:



    Wir stehen garnicht so viel besser da!

    Unser Wohlstand ist zwar relativ hoch kann aber auch relativ schnell sinken, weil bei uns auch die Verschuldung und der Lebensstandard relativ hoch ist und auch weil die EZB ja kräftig unsere "Spargroschen" abgreift und der Finanzmarkt alles andere als "krisensicher" ist.

    Auch bei uns können sich viele Menschen schon kaum mehr als das Nötigste leisten - und die sind nicht "selbst schuld", sondern die sind die ersten "Opfer".

    • @FoolOnTheHill:

      Sie sagen es, unsere Spargroschen. Wir haben nämlich noch welche, und das nicht zu knapp. Und die wiegen, zumindest betriebswirtschaftlich, die vielen Menschen, die sich kaum mehr als das Nötigste leisten können auf, auch wenn die nicht alle "selbst schuld" sind.

  • Macht er jetzt einen auf Karawanenführer, die auch nie ihren Kurs korrigiert haben, weil umkehren ihre schlechten Führungsqualitäten offenbahrt hätten und man vielleicht doch kurz vor der Erreichung des Ziels stand...also aus Hybris?

  • Die Türkische Lira ist seit 100 Jahren, bis auf ganz kurze Zeiträume, im freien Fall. Egal, wer Präsident war, egal, welche Politik gemacht wurde.

  • Die Finanzlage der Türkei ist eine andere als hierzulande und natürlich spielen bei so etwas immer mehrer Faktoren zusammen.

    Dennoch haben wir auch hier eine Inflation welche sehr sehr hoch ist.

    Andere Finanzmärkte wanken auch.

    Mit Sorgen betrachte ich seid Jahren Cryptowährungen. Die sind sowieso schonmal aus Klimapolitischen Gründen scheisse, ziehen Strom den sich die Menschheit nicht leisten kann und die Serverfarmen welche Bitcoins generieren brauchen auch Resourcen die knapp werden.

    Meine Sorge ist aber auch eine andere. Wir haben hier ein 0 Produkt. Keine Ware, keine Dienstleistung steht dahinter. Spekulation pur. Der Wert vom Bitcoin ist glaube ich in weniger als einer Dekade um den Faktor 10'000 gestiegen :(. Das ist Spekulation pur und nicht nur Umverteilung von unten nach oben wie ich Sie noch nie gesehen habe. Das ganze erinnert mich an die Tulpenkrise des 17. Jahrhunderts.

    Ist die These abstrus das Cryptowährungen Finanzsysteme destabilisieren? Gibt es Studien hierzu?

    • @SimpleForest:

      Die These ist nicht abstrus, aber ich glaub kaum, daß es schon objektive Studien gibt.



      Obwohl es meiner Meinung nach lediglich "noch nicht verbotene" Schneeballsysteme sind, kann man erwarten, daß sie im Fall einer Krise als erstes "absaufen" werden. Diese Einschätzung berücksichtigt allerdings nicht, daß nimand die Dummheit der Menschen "berechnen" kann - viele Zocker spekulieren auch darauf, daß umsomehr Geld in die (wertlosen) Kryptos fließen wird, je schlimmer die Krise wird.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Hoffentlich fällt Erdogan gleich mit!

  • Der Lange - wie lange?

    Meine türkisch-Import-Export - ☕️☕️☕️ -freunde.



    Haben spätestens nach “Zahlungsziel - halbes Jahr!“



    Durch seinen unfähigen Schwiegersohn - resigniert Abgewunken.

    kurz - Der kranke Mann am Bosporus 2.0 •