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Debatte um CoronamesswerteWir brauchen die „Inzidenz“

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Die „7-Tage-Inzidenz“ wird zuletzt weniger beachtet als die Zahl der Hospitalisierungen. Dafür gibt es Gründe. Aber den Wert aufzugeben, wäre fatal.

Wie viele Co­ro­na­pa­ti­en­t:in­nen gerade in den Kliniken liegen, weiß man erst Wochen später Foto: Jens Büttner/dpa

E s war einmal ein Land mitten in Europa, da kannten sich die Menschen aus. Es war Pandemie, der Kontakt zu anderen war nicht mehr so easy wie früher, aber je­de:r in Deutschland kannte eine Richtschnur, einen Wert, den man morgens im Radio hörte oder im Internet sah: die 7-Tage-Inzidenz. Man wusste: Oh, über 35, langsam muss man sich wieder Sorgen machen. Hm, 50, jetzt wird es heikel. Über 100? Nun gehe ich wirklich nicht mehr ohne Maske vor die Tür. Vermeide Besuche bei Oma und Opa. Gehe am besten allen aus dem Weg.

So weit, so klar. Und das, obwohl gewiss nicht je­de:r genau erklären konnte, was es mit dieser Inzidenz auf sich hat; was diese soundsoviel Neuinfektionen pro Hunderttausend Ein­woh­ne­r:in­nen bedeuten: mathematisch, politisch oder ganz praktisch. Nach anderthalb Jahren Pandemie und drei hoch- und wieder runterschwappenden Wellen hatte man jedoch gelernt, sich nach diesem Wert zu richten. Werte geben Orientierung.

Dann kam die Impfung. Endlich. Aber sie hatte eine Nebenwirkung: Sie brachte die Werte ins Wanken.

Tatsächlich muss man sehen, dass eine Infektionsrate heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie eine gleich hohe Inzidenzzahl noch vor einem Jahr. Denn dank der – leider immer noch unzureichenden – Impfungen erkranken deutlich weniger Infizierte an Covid-19, kommen weniger Erkrankte ins Krankenhaus und weniger Pa­ti­en­t:in­nen auf Intensivstationen. Streng ökonomisch heißt das: Deutschland kann sich mehr Infizierte leisten, ohne das Krankenhaussystem zu überlasten.

Die Zahl der Hospitalisierungen taugt als Warnwert wenig

Das ist erfreulich. Allerdings fehlt den Normalsterblichen ohne den Inzidenzwert die Orientierung beim Umgang mit dem weiterhin potenziell tödlichen Virus.

Insofern war es cool von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass er sich im Sommer auf die Suche nach einem neuen Messwert machte – und die ­sogenannte Hospitalisierungsrate auftat. Die zählt nicht mehr die Neuinfizierten, sondern die, die ins Krankenhaus müssen. Ein weiterer Unterschied: Für Hospitalisierungen gibt es keinen bundeseinheitlichen Schwellenwert, sondern Regelungen je nach Ausstattung der Kliniken in den Ländern. Sie ist zuden ein Wert unter mehreren, mit dem sich der Stand der Pandemie lokal sehr differenziert bewerten lässt. Man ist näher dran am Problem. Also alles gut? Leider nein.

Denn die Hospitalisierungsrate schafft wiederum mehrere Probleme. Erstens: Weil Menschen sich erst infizieren und später ins Krankenhaus kommen, steigt – oder fällt – der Wert verglichen mit der Inzidenz der Neuinfektionen erst Tage später. Sie ist also ein Warnwert mit Verspätung. Zweitens: Wegen vieler Nachmeldungen wird die Rate regelmäßig um bis zu 100 Prozent nach oben korrigiert. Der Wert, den das Robert Koch-Institut also täglich durchgibt, ist meistens viel zu tief. Wie viele Co­ro­na­pa­ti­en­t:in­nen heute tatsächlich in den Kliniken liegen, weiß man erst in drei bis vier Wochen. Für einen Warnwert ist all das fatal.

In Thüringen, dem aktuell am stärksten von Corona betroffenen Bundesland, hat sich die Hospitalisierungsrate binnen einer Woche fast verdoppelt, sie stieg am Montag auf 7,74. Damit hätte dieser Indikator laut der Thüringer Sars-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung die Schwelle für die Warnstufe 2 überschritten.

Wer nicht vom Fach ist, verliert die Orientierung

Faktisch wird man in mehreren Wochen feststellen, dass die Rate heute schon für die Ausrufung der höchsten Warnstufe 3 gereicht hätte – sofern weitere Werte wie die alte Inzidenz auch hoch genug gewesen sein werden. Nicht bundesweit, sondern nur im jeweiligen Landkreis.

Sie kommen nicht mehr mit?

Eben.

Die Hospitalisierungsrate ist für die Nor­mal­bür­ger:­innen­ schlicht­weg unverständlich. Hinzu kommt ein psychologischer Effekt: Gefühlt verlagert der neue Wert das Problem in die Krankenhäuser. Der Mensch draußen auf der Straße nimmt an, er oder sie habe damit nichts mehr zu tun. Der Differenzierungs- und Anpassungswille des Bundesgesundheitsministers führt also dazu, dass Nichtfachleute orientierungslos werden. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen einfach tun, was sie für richtig halten.

Das ist leider gefährlich. Und eigentlich unverantwortlich. Bei aller Differenzierung: Ohne die Inzidenz als Frühwarnwert werden wir nicht auskommen. Sie betrug übrigens am Montag 110.

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Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
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6 Kommentare

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  • Die Inzidenz als Wert ist eh sehr frafwürdig, da diese , abhängig von der Zahlder Testungen stark schwanken dürfte. Vernünftig wäre eine auf die Testanzahl bezogene Anzahl. Aber das kriegt das RKI ja wohl auch nicht hin...

    • @Dodoist:

      Das ist lediglich ein mathematisches Argument. Ich bin natürlich nicht allwissend, jedoch unterstellt diejenige Ihre Aussage durchaus, dass der Wert manipuliert wird. Da müssten sich mE zuviele voneinander unabhängige Stellen stillschweigend verbünden: Hausärzte, Krankenhaus-Ärzte, Notärzte, sonstige Anordnende von Tests pp. .

      • @Gerhard Krause:

        Ich finde nicht, dass die Aussage das unterstellt. Teststrategien werden doch immer mal wieder angepasst, zusätzlich sorgen z.B. Schulferien für eine Reduktion der Tests, genauso wie neu jetzt die Kosten der Tests. Nach den Schulferien wird nun wieder mehr getestet. Das sind logische Effekte, aber keine absichtlich zu diesem Zweck herbeigeführten Effekte.

        Davon mal abgesehen, gibt es mit der Testpositivrate eben auch genau den zusätzlichen Messwert, der mit betrachtet wird und diese steigt momentan auch merklich, von daher steigt das tatsächliche Infektionsgeschehen definitiv auch.

        Es ist nur mittlerweile damit zu rechnen, dass dieser jahreszeitlich bedingte Anstieg auch schneller wieder von selbst abflacht, wie auch schon beim Erstkontakt mit der Delta-Variante bereits Anfang September ein Maximum erreicht wurde.

        Nun steigt - hauptsächlich jahreszeitlich bedingt - der R-Wert wieder an bis genügend der momentan in Frage kommenden Überträger immunisiert bzw. bei bereits Geimpften nachimmunisiert sind.



        Da im Vergleich zum letzten Jahr nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung merklich gefährdet ist, wird das vermutlich ohne eine ähnlich hohe Intensivbelastung wie im letztzen Winter abgehen, muss aber natürlich beobachtet werden.



        Der R-Wert darf nun zumindest nicht mehr merklich steigen und sollte in ein paar Wochen wieder abfallen.

        Wenn es so kommt, werden die bisherigen Maßnahmen wohl den ganzen Winter über ausreichend sein, wenn nicht dann nicht.

  • Der Inzidenz auf den Kopf zu schlagen, das ist auch wieder eine dieser selten dämlichen Ideen, die der Hans im Saarland prima finden dürfte, solange die neue Idee der Hospitalisolierung nicht schief läuft. 🤦

  • Und der Witz ist, dass die Gesundheitssysteme sich eben NICHT durch die Impfungen mehr Infizierte leisten können. Das wird einem sofort klar, wenn sich mal die Zahlen im Vergleich zum letzten Jahr ansieht. Ja, die schweren Verläufe finden zu 90% unter den Ungeimpften statt, aber Delta ist um so viel mehr ansteckend und führt bei Infizierten so viel öfter ins Krankenhaus, dass das Verhältnis zwischen Inzidenz und Hospitalisierung fast gleich geblieben ist. Wir haben aktuell eine etwa 50% höhere Inzidenz als vor genau einem Jahr und auch eine um etwa 50% höhere Anzahl von Schwerkranken Covid-Patienten auf den Intensivstationen.

    Das sieht jeder sofort, der sich einfach mal die Zahlen ansieht. Harmloser ist das für die Geimpften geworden, aber nicht für die Ungeimpften und auch nicht für die Krankenhäuser.

  • Wie habe ich in einem Beitrag vom Virologen Kekulé gelesen? 500 ist das neue 50, also ab 500 müssen wir uns Gedanken, sehr vernünftig. Auch könnten wir inzwischen uns wieder die Hand geben, allerdings sollte man diese regelmäßig waschen, denn, meine Aussage, Menschen bohren sich in der Nase, im Ohr und kratzen sich vielleicht noch ganz woanders ;)