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Debatte um IdentitätspolitikDeal with it

„Bürgerliche Medien“ bekommen wegen deren Debatte zur Identitätspolitik den Negativpreis „Goldene Kartoffel“ – auch die taz.

Auf der „Silent-Demo“ gegen Rassismus im vergangenen Jahr in Berlin Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

In Jörg Fausers Roman „Rohstoff“ bekommt der rebellische Jungdichter Harry Gelb Anfang der 1970er Jahre in Frankfurt am Main einen lukrativen Schreibauftrag. Er soll für das neu eröffnete Musikcafé Zero ein „Kommuniqué“ verfassen, „die Leute müssen wissen, dass es uns gibt“.

Harry macht sich an die Arbeit, das Resultat enttäuscht aber seine Auftraggeber. „Oh nein, oh nein, das ist viel zu politisch.“ Und: „Warum bist du denn so aggressiv, Harry? Willst du, dass die Stadt uns zumacht?“ Da fällt bei Harry der Groschen, und er schreibt noch mal neu unter dem von Timothy Leary geliehenen Titel „Die Revolution ist vorbei – Wir haben gewonnen“. Dafür bekommt er Lob und einen doppelten Bacardi.

Es gehört zu den Eigenheiten der 68er-Revolte, dass sie von ihren Zielen praktisch alle erreicht hat, nur nicht das, womit sie zentral angetreten war: die Überwindung des Kapitalismus beziehungsweise des bürgerlichen Schweinesystems. Dass wir heute mit den zahlreichen identitätspolitischen Bewegungen von MeToo bis Black Lives Matter ein neues 68 erleben, ist inzwischen so oft gesagt worden, dass wir vielleicht noch mal drüber nachdenken sollten, was an dieser Analogie wirklich stimmt.

Tatsache ist, dass sich die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren zumindest in ihrer Rhetorik und in der Auswahl der Themen, die überhaupt öffentlich verhandelt werden, so sehr verändert haben, dass den alten weißen Männern (AWM) – die selbstverständlich weder Männer noch weiß, noch alt sein müssen – tatsächlich nichts mehr einfällt, als etwa die stockstrukturkonservative Bundesrepublik einen „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ zu nennen.

Bei Freddy Quinn war 1966 der Inhalt seines Anti­jugend­gassenhauers „Wir“ zwar genauso dumpf wie Mathias Döpfners aktuelle Einlassungen, aber es klang wenigstens schön. Die smarteren AWMs hingegen fordern heute wie einst zum Dia­log mit der rebellischen Jugend auf und warnen vor der Spaltung der Gesellschaft. Damit warnen sie vor nichts anderem als vor Politik selbst. Deren Kern ist Spaltung, das Sezieren von Interessen und Machtverhältnissen sowie der Kampf für ein besseres und gerechtes Leben für alle. Wer vorwurfsvoll von Spaltung der Gesellschaft redet, outet sich also als konservativ; und wie ließe sich das seit jeher besser verbergen als dadurch, dass man sich selbst als letzten wahren Linken abfeierte?

Den Beharrungswillen, der der anti-identitätspolitischen Warnung vor gesellschaftlicher Spaltung innewohnt, hat die US-Autorin Joan Didion bereits 1992 analysiert; Bill Clintons damals verkündetes „Bekenntnis zur Mitte“ schließe laut Didion die Absage ein, die Interessen der Armen und der Minderheiten zu vertreten, wie es sehr lang Kernaufgabe der Demokraten gewesen sei.

Aber Deutschland ist langsam und Provinz, kein todbringender Dieselskandal und kein Bunga-Bunga bei Springer wird hierzulande aufgedeckt ohne die Hilfe des amerikanischen Freundes – und da haben wir von der Befreiung vom Faschismus noch gar nicht gesprochen. „Kein Wort“, schreibt Didion, sei auf dem Parteitag der Demokraten über diese ehemalige Kernwählerschaft verloren worden; so wie bei den aktuellen Gesprächen zur Regierungsbildung in Deutschland kein Wort verloren wurde über den Kampf gegen Rassismus, bewaffneten Rechtsextremismus und Polizeigewalt.

Bei der Mehrheitsfindung spielen diese Themen keine Rolle; so, wie es für die Mehrheit keine Rolle spielt, dass die Schriftstellerin Jasmina Kuhnke nicht auf die Buchmesse kommen kann, weil sie dort Nazis bedrohen. Klar, ein paar Autorinnen solidarisieren sich mit ihr, aber der Betrieb läuft ungerührt weiter. Wer mit sexualisierter Gewalt konfrontiert ist, bekam von der anti-identitäts­politischen Internationalen einst den Rat: Dann mach doch die Bluse zu. Wer sich einer spezifisch rassistischen Bedrohung nicht aussetzen möchte, der wird gesagt: Dein Problem.

Das ist nicht ausschließlich schlecht – auch weil es vielleicht tatsächlich andere, kollektive Widerstandsformen zu etablieren gälte. Vor allem aber ist es die Realität. Die identitätspolitische Bewegung ist, wie die Revolte von 68, eine Jugend- und Elitebewegung. Allerdings waren die 68er als geburtenstarke Jahrgänge viele, die antirassistische, queerfeminstische, antiautoritäre Generation heute ist schon den nackten Zahlen nach in der Minderheit. Sie lebt und agiert unter der Herrschaft der Boomer und Alten.

Die 68er waren als geburten­starke Jahrgänge viele, die antirassistische, queer­feministische, antiautoritäre Generation heute ist schon den nackten Zahlen nach in der Minderheit. Sie lebt und agiert unter der Herrschaft der Boomer und Alten

Wenn nun neben anderen „bürgerlichen Medien“ auch die taz die Goldene Kartoffel 2021 „für die unterirdische Debatte über ‚Identitätspolitik‘ “ bekam, dann mussten die den Preis vergebenden Neuen deutschen Me­di­en­ma­che­r*in­nen zwar einiges an Texten, die in der taz in den letzten Jahren erschienen sind, ausblenden – aber Recht haben sie trotzdem: Der Diskurs, der sich von den immer gleichen, tendenziell allerdings aggressiver werdenden AWM-Tiraden absetzt, hat offensichtlich das Bild nach außen nicht geprägt. Das ist die Lage – deal with it.

Im Deutschlandfunk wird gegendert, Konzerne geben sich divers und handeln oft sogar so, die Fenster sind wenigstens gekippt worden. Aber der erste große Impuls der emanzipatorischen Bewegung hat an Power verloren und trudelt jetzt wie ein Ballon durch eine gewohnt stickige Atmosphäre. Bei den 68ern endete die Selbsttäuschung mit der Integration in die sozialliberale Epoche, oft genug aber auch in Verzweiflung oder narzisstischem Terror. Doch die Geschichte muss sich nicht wiederholen. Wie Harry Gelb am Ende von „Rohstoff“, in die Gosse geworfen, resümiert: „Wenn das so ist, dachte ich, kannst du auch aufstehen.“

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10 Kommentare

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  • Identität - selbst die Kartoffel wähnt ihre Chance, sich für einen Sternenstaub-Moment zu vergolden. Sag mir wo Du stehst? Gutmensch oder Alter Weißer Mann?

  • "Damit warnen sie vor nichts anderem als vor Politik selbst. Deren Kern ist Spaltung"



    Was die Gesellschaft spaltet ist der Tratsch über abwesende Dritte. Dieser gefährdet, was Millionen von Menschen über Jahrzehnte an Gemeinsamem geschaffen haben, indem eine/r sich mit einem/r anderen verständigt - im Austausch, im Zuhören, im Nachdenken.



    Von intersektionalen Aktivistenchören bis zur monologisierenden Wagenknecht, in der Identitätsdebatte war Tratsch über andere von Anfang die vorherrschende Kommunikationsform. Und die Tageszeitungen und Politmagazine haben ganze Arbeit geleistet, indem sie jeden noch so winzigen Pups der Marke "was wir von der Gruppe xy und ihrem Standpunkt yz zu halten haben" so lange verstärkten und vervielfältigten, bis auch der Letzte die Gelegenheit bekommen hatte, ausführlich zu den einzelnen Nuancen der Duftnote Stellung zu nehmen. Aber von Selbstkritik der Medien ... (fast) keine Spur. Auch hier nicht bzw. kaum.



    Bestimmt ist die taz im Line-up der professionellen Tratsch-Verstärker nicht an erster Stelle zu nennen, aber an letzter eben auch nicht. Insofern ... redlich verdient, herzlichen Glückwunsch!



    taz.de/picture/303...ene_Kartoffel.jpeg

  • Meiner bescheidenen Meinung nach sind viele einfach müde. Oh je, schon wieder der Kampfbegriff "alte weiße Männer", oh je schon wieder organisierte Empörung über...



    Ich weiß, ich bin ein Träumer, aber bevor man nicht die Identität "Mensch" und "Kosmopolit" für eine Mehrheit erreicht hat, läuft die aktuelle Form der Identitätspolitik ins Leere.



    Die individuellen "kleinen" Identitäten verlieren an Bedeutung, wenn bei einer ersten Begegnung die erste Reaktion "Oh, sieh mal, auch ein Mensch" ist und nicht etwa "Oh sieh mal, ein Schwuler (oder was auch immer).



    Aktuell werden Unterschiede hervorgehoben, nicht Gemeinsamkeiten. Und das kann einfach nicht zu mehr Integration, gegenseitigem Verständnis, Akzeptanz etc. führen.



    Bin ich ein Spalter, wenn ich darauf hinweise? Ein Konservativer? Gar ein Rechter? Erfülle ich damit das Klischee des diskriminiereden Begriffs "alter weißer Mann"?



    Oder bin ich vielleicht einfach schon einen Schritt weiter?

    • @Grummelpummel:

      Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir dort hin?

      Vom Ziel träumen viele, vom Weg träumt bemerkenswerter Weise niemand.

      • @Lossy:

        Einen Ansatz schrieb ich ja: Gemeinsamkeiten hervor heben, statt immer mehr auf Unterschiede zu verweisen.



        Was auch ganz übel ist in meinen Augen: "Du darfst Dich dazu nicht äussern, weil Du weiß (hetero, männlich, Marsianer, gelb-blau gestreifter Hudelwumps oder weiß der Geier was) bist.



        Die Diskussionskultur driftet gefühlt immer mehr in dogmatische Lagerkämpfe ab (zumindest in den Kommentarspalten). Da kann sich jeder selbst an die Nase fassen und tatsächlich etwas ändern.

  • Vor ein paar Jahren habe ich die Debatte um Identitätspolitik eigentlich noch als einen eher inner-linken Streit wahrgenommen. Es ist wahr: Inzwischen sind Konservative und Rechte auf den Zug aufgesprungen und verzapfen allerlei Unsinn dazu. Allerdings kann man sich des Verdachts nicht erwehren: Für die, denen die Debatte grundsätzlich nicht passt, kamen die Rechten wie gerufen. Kann man doch so kinderleicht jede unliebsame Kritik an sich - egal aus welcher Richtung, egal mit welcher Motivation - als rechts, neurechts, rechtsradikal oder schlicht als "wahnsinnig" abtun und braucht sich nicht mehr weiter damit zu beschäftigen. Der Begründungstext für diesen Preis zeigt das aufs Schönste (ein Text übrigens, der wirklich "Gaslighting für Anfänger" ist, will sagen: SO offensichtlich sollte man es nicht machen).

  • Ach Gottchen. Die tazzis sind ja viel, aber bürgerlich? Da hat sich die, übrigens fast ausschließlich aus Steuergeldern finanzierte, Truppe aber mächtig selbst ins Knie geschossen. Folgt man der Begründung für die Verleihung, wäre die Bepreisung nur zu vermeiden gewesen, wenn man ausschließlich die Meinung der ndm rezipiert hätte. Gemeint ist also Journalismus auf Qualitätsstandart Nordkorea.... Man nehme also die Goldene Kartoffel als das Lob, dass sie tatsächlich darstellt.

  • Jo. Genau hier liegt doch der Knackpunkt.

    Es gibt die "goldene Kartoffel" für die taz, obwohl hier taz eine ganz offene Debatte zum Thema geführt wird. Von (teils sogar radikalen) Befürwortern bis hin zu Kritikern. Hier wird -so scheints mir zumindest- überhaupt nichts einfach so von Rechtsaußen übernommen oder unsachlich polemisiert, sondern es wird das getan, was eine gewinnbringende Debatte ausmacht.

    Verschiedene Standpunkte werden auf den Tisch gelegt, verschiedene Positionen kommen zu Wort, für und Wider wird abgewogen.

    Dabei wird immer wieder klar, was eigentlich der größte Kritikpunkt an den Auswüchsen von Identitätspolitik und ihrer eifernsten Vertretern ist. Die Ablehnung einer offenen Debatte, das überhebliche Schubladisieren von Menschen und das vorschnelle Pauschalisieren und Verurteilen abweichender Meinungen.

    Und deshalb ist so ein Kartoffelpreis nur genau das, was zu erwarten war. So folgerichtig wie grundfalsch.

    • @Deep South:

      Welche Artikel von radikalen Kritiker_innen beispielsweise des Genderns haben Sie den in den letzten Jahren in der Taz gelesen?

      • @rero:

        Gar keinen. Ich habe von "(teils sogar radikalen) BEFÜRWORTERN" geschrieben.