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Innerjüdische DebattenEs braucht sichere Räume

Gastkommentar von Monty Ott und Ruben Gerczikow

Jü­din­nen und Juden streiten, wann Menschen als jüdisch verstanden werden sollten. Warum sich auch viele nichtjüdische Stimmen in die Diskussion einmischen.

Esty aus der Serie „Unorthodox“ mit ihrem Ehemann Yanky Foto: Netflix

A nfang 2020 eroberte die Serie „Unorthodox“ deutsche Bildschirme. Die Geschichte über Esty und ihre Flucht aus dem ultra-orthodoxen Judentum in New York nach Berlin bot den Zu­schaue­r:in­nen einen Einblick in eine jüdische Welt, die selbst vielen Jü­din­nen:­Ju­den verschlossen bleibt. Nur wenige haben Berührungspunkte mit der chassidischen Gruppe „Satmer“. Laura Cazès und Jakob Baier konstatieren in ihrem Beitrag „Deutsche, die auf Juden starren“, dass „der Blick in das exotisch anmutende Innenleben einer jüdischen Gemeinde“ die Zu­schaue­r:in­nen in ihren Bann zog.

Die aktuell im Feuilleton geführte Debatte bietet einen Anlass, um einige Gedanken von Cazés und Baier zu aktualisieren. Maxim Biller, der kürzlich mit seinem Roman „Der falsche Gruß“ in die Buchläden kam, hatte dem jüdischen Aktivisten Max Czollek abgesprochen, jüdisch zu sein. Im Anschluss daran äußerte sich auch Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, der auf die Regeln der Halacha verwies, des jüdischen Religionsgesetzes.

Viele jüdische Stimmen diskutierten daraufhin, unter welchen Voraussetzungen (ob durch religiöse Gebote oder durch Kultur und Sozialisation) Menschen als jüdisch verstanden werden sollten. Hierzulande existiert ein schmaler Korridor für Sichtbarkeit von Jüdinnen:Juden. Sie werden darauf begrenzt, Betroffene von Antisemitismus oder Auslandsvertretung Israels zu sein. Die Komplexität jüdischer Erfahrungen findet darin keinen Platz.

Jüdisches Leben in Deutschland wird in der Geschichte auf die Zeit des Nationalsozialismus reduziert. Die Auseinandersetzung mit jüdischer Religion oder Kultur erhält dadurch etwas Fremdes, etwas Exotisierendes. Einen Erklärungsversuch dafür, dass das Judentum trotz des vermeintlich „christlich-jüdischen Abendlandes“ für „Anders“ gehalten wird, liefert der deutsch-jüdische Historiker Dan Diner.

Bild: Jan Feldmann
Monty Ott

schreibt seine Doktorarbeit zu queer-jüdischem Leben und engagiert sich im jüdisch-aktivistischen Medienprojekt „Laumer Lounge“. Außerdem arbeitet er gerade an seiner ersten Buchpublikation.

Bild: Rina Gechtina
Ruben Gerczikow

beschäftigt sich seit vielen Jahren mit rechtsextremen Strukturen, war bis 2021 Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und der European Union of Jewish Students.

1987 – in den Wehen der sogenannten 'Wiedervereinigung’ und des wiedererstarkenden deutschen Nationalismus – schrieb Diner von der „negativen Symbiose“. Er erklärte, dass von den Na­tio­nal­so­zia­lis­t:in­nen eine Verbindung zwischen „Juden“ und „Deutschen“ geschaffen wurde, die „auf Generationen hinaus [das Verhältnis] beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen“ würde.

Nach der Shoa sollte der Blick auf Jü­din­nen:­Ju­den durch diese Symbiose geprägt sein. „Deutsche, die auf Juden starren“, wobei Jü­din­nen:­Ju­den dabei nur als Spiegel für die eigenen national-identitären Konflikte dienen. Und diese Erkenntnis trifft uns mit aller Wucht in der Gegenwart. Ohne sie ist nicht zu verstehen, warum sich in die aktuelle Debatte um die Frage „Wer ist Jude?“ auch so vielen nichtjüdische Stimmen auf polemische Weise mischen.

Hier geht es nicht nur um einen innerjüdischen Konflikt mit offenem Ausgang, sondern darum, wie die Gesellschaft jüdisches Leben zu instrumentalisieren versucht. Am klarsten zu erkennen ist das bei denjenigen, die jetzt mit erhobenem Zeigefinger rufen: „Ich wusste es, die Juden sind auch Rassisten.“

Die Debatte um jüdische (Nicht-)Zugehörigkeit findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einer Gesellschaft, die sich anmaßt, die höchste Entscheidungsgewalt darüber zu haben, wer, was und wie jüdisch ist. Im Hinblick auf „Unorthodox“ erklären Cazès und Baier, dass eine „mehrheitsgesellschaftliche Perspektive […] sich derzeit munter an einem nie dagewesenen Einblick in eine fremde, exotische Welt“ erfreue, die aber einem „eigenen German Gaze“ unterliege.

Anders ist es nicht zu erklären, dass das „jüdische Fremde“ immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten wird. Das ist vor allem deshalb möglich, weil das „Starren“ auf uralte Seh- und Denkgewohnheiten aufbaut. Das „Jüdische“ dient seit über zweitausend Jahren dazu, die eigene Position und die eigene „Identität“ zu erklären. Es ist das dem Eigenen Nichtidentischen, in dem sich alles findet, was man selbst nicht ist, nicht sein will oder gerne wäre.

Es ist nicht nur der Spiegel, sondern ein Tablett, auf dem sich alles sammelt, was man sich zu bewundern verwehrt, aber doch gerne wäre. Wenn nun im Kontext der deutschen Gesellschaft eine Debatte über jüdische Zugehörigkeit geführt wird, dann knüpft das an die verdrängten Krämpfe/Konflikte deutscher Identität an. Denn diese ist unaufhörlich an Jü­din­nen:­Ju­den und die Shoa geknüpft. Damit ist sie krisenhaft unheilbar.

Wenn nun Jü­din­nen:­Ju­den in der Öffentlichkeit über Zugehörigkeit streiten, bietet diese – für jüdische Communities wichtig zu führende – Auseinandersetzung für die deutsche Gesellschaft eine Projektionsfläche für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Wenn Deutsche auf Jü­din­nen:­Ju­den starren, wie es gerade geschieht, dann um zu finden, was die nationale Identität nicht hergibt:

Eine Entlastung, weil Jü­din­nen:­Ju­den angeblich moralisch verwerflich handeln, oder weil eine Art der Zugehörigkeit ohne Widersprüche phantasiert wird: Jü­din­nen:­Ju­den als homogene Gruppe. Die einzelnen Beiträge der Debatte zeigen dagegen, wie vielfältig Geschichten und wie komplex Zugehörigkeit ist. Die wirkliche Auseinandersetzung muss deshalb an Orten stattfinden, die fernab der Öffentlichkeit und des Starrens liegen.

Das Kompetenzzentrum der ZWST (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) schafft einen solchen Ort, indem es einen „Safe Space für Zugehörigkeitsdebatten“ veranstaltet. Im Aufruf hieß es: „Viele Menschen fühlen sich von dieser Debatte berührt und bekunden den Bedarf an einem innerjüdischen Raum und Erfahrungsaustausch“.

Dieser offen gestaltete, aber dennoch innerjüdische Raum bietet eine Ausnahme, die einen angemessenen Umgang mit der Vulnerabilität der Gruppe findet, über deren Köpfe hinweg hier gestritten wird. Denn der Druck des nichtjüdischen Starrens sorgt dafür, dass es viel Vertrauen braucht, um sprechen zu können. Bisher findet es nur in vielen, voneinander abgeschnittenen Räumen statt.

Das Kompetenzzentrum könnte jetzt vielleicht einen größeren Raum eröffnen, der die vielen abgeschnittenen Gesprächsfäden zueinander führt. Fernab der Social Media Debatten können sich Betroffene mutig genug fühlen, um über ihre Fragen und Identität zu sprechen. So etwas ist unter den wachsamen Augen nichtjüdischer deutscher Diskurse kaum möglich.

Besonders auf Twitter waren es nichtjüdische Deutsche, die mit Eifer schnell Position bezogen und vor allem für sich selbst Definitionsmacht behaupteten. Sie sprachen Menschen das Jüdischsein ab oder meinten, ein solches Jüdischsein bestätigen zu können. Obwohl es sich hierbei um eine jüdische Debatte handelt, hielt es die Mehrheitsgesellschaft nicht davon ab, die rabbinische Autorität zu spielen und die Frage zu beantworten „Wer ist Jude?“

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7 Kommentare

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  • eine interessante Schilderung,

    ich habe selbstverschuldet wenig Kontakte zu Juden, hätte gerne mehr. Ich kann Die Aussage dass es Schutzräume braucht gut verstehen, allein um den ganzen Trollen und Antisemiten, welche Juden in Deutschland nicht wollen, keine Plattform zu geben. Jedoch finden die meisten Debatten 'auch' über die Medien statt, so dass sich jeder eine (mehr oder weniger qualifizierte) Meinung bilden kann und darf.



    Ich wäre gerne freund aller Israelis als Menschen und würde von reiner Identitätssuche in Religion oder Nation abraten. Daher kann ich die Politik Israels als expressiv nicht laizistischen Staat oft nicht verstehen, auch wenn ich den Nahostkonflikt hier nicht Unterkomplex darstellen möchte. Aber vielleicht kann mir hier ja jemand erklären warum man sich unbedingt als Nation durch Religion identifizieren muss. Die Religion sollte idealerweise doch sowieso jeder ausüben dürfen, egal wo.

  • Ganz ehrlich, haben Sie Hoffnung auf sichere Räume, wenn bei uns in der Presse oder durch breite Strömungen unserer Kulturszene immer wieder versucht wird, etwa der BDS- Bewegung ein Gewand der Seriosität umzulegen.



    Alex Feuerherd und Florian Markel haben den Abgrund dieser Bewegung in Ihrem Buch "Die Israel-Boykottbewegung, Alter Hass in neuem Gewand" sehr gut dargestellt.



    Ein kurzes Zitat aus dem Geleitwort. Zitat Seite 8:



    "So brüllten Anhänger der Bewegung im Jahr 2017 eine Shoah-Überlebende nieder, die an der Berliner Humbold Universität einen Vortrag hielt. Die Frau, die heute in Israel lebt, erlebte eine posttraumatische Bestätigung dessen, warum der Staat Israel heute notwendig ist. [.....] So ungern es gehört wird: In seiner kategorischen Ablehnung all dessen, was als israelisch gilt, wird eben nicht an den Boykott der Produkte des ehemaligen Apartheit-Regims Südafrika angeschlossen, sondern an ein historisches Vorbild aus Deutschland."



    Zitat Ende



    Anzuknüpfen ist hier ein Zitat aus "Hitlers willige Vollstrecker von Daniel Jonah Goldhagen, Seite 197, Zitat:



    "Hitler hatte seine Herrschaft mit Beschimpfungen und einem symbolischen eliminatorischen Anschlag auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland begonnen, mit dem Boykottaufruf vom 1. Aprill 1933; am Ende seines Lebens und seiner Herrschaft versuchte sein Gefolge noch bis zum letzten Augenblick, Juden umzubringen."



    Zitat Ende



    Dass vor diesem historischen Hintergrund Szenen in Deutschland, wie in der Berliner Humbold Universität 2017 möglich sind, ist beängstigend. Vergegenwärtigen wir uns, es sind ganz gewöhnliche Deutsche von heute, die eine Shoah-Überlebende niedergebrüllt haben.

  • Eigentlich ist es wurscht, ob jemand für sich selbst oder in den Augen von Juden Jude ist oder nicht, wenn Antisemiten jemand für einen Juden halten, sprich "jüdisch lesen", und draufhauen.



    Allein die Tatsache, dass Leute andere Menschen angreifen, nur weil diese Juden, Schwarze, Muslime, Behinderte, Arme usw. sind, ist der wahre Skandal.

  • Ein sehr guter Artikel!

  • Starker Artikel, vielen Dank!

  • Sie haben es auf den Punkt gebracht!



    Ihre Frage am Anfang:



    "Warum sich auch viele nichtjüdische Stimmen in die Diskussion einmischen" bleibt ein Rätsel. Selbst nach dem Holocaust haben die Deutschen keine Scheu, die wenigen überlebenden Juden und ihre Nachkommen über die halbe Welt zu verfolgen, um ihnen "die Demokratie, selbst in Middle East lehren zu wollen".



    Lesen wir mit komprimierter Ratlosigkeit hier:www.boell.de/de/buero-israel-tel-aviv



    Zitat:



    "Ziel der Arbeit des Büros ist es, einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie und Zivilgesellschaft in Israel, zur Förderung der sozial-ökologischen Transformation und zur konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt zu leisten."



    Zitat Ende



    Wie es dann aussieht, wenn Deutsche "einen Beitrag zur „konstruktiven“ Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt leisten, können wir in der uns bereits Bekannten Schrift der H.B. Stiftung „Palästina und die Palästinenser: 60 Jahre nach der Nakba“, die alt bekannter völkischen Melodie, ab Seite 62 nachlesen,



    Zitat:



    „Die Verbundenheit mit dem Land ist wohl historisch das wirkmächtigste und stärkste Motiv im politischen Bewusstsein der Palästinenser. Dabei meint «Land» nicht nur das Land, aus dem man vertrieben worden war, also Vaterland oder Heimat (watan), sondern zunächst ganz elementar das Land, von dem man vertrieben worden war, also der Boden oder die Scholle (al-ard)“. [….] weiter auf Seite 64: „Doch trotz des fast schon literarischen Topos des «öden, vernachlässigten Palästina» präsentierte sich dieses auf der Weltausstellung in Wien 1873, also vor



    der jüdischen Kolonisation, in einem ganz anderen Licht.“



    Zitat Ende



    Aus der Flucht vor Pogromen und dann vor der sicheren Vernichtung in den deutschen Gaskammern konstruiert die H.B. Stiftung eine „jüdischen Kolonisation“.



    No sense of shame no limits.

  • "Besonders auf Twitter waren es nichtjüdische Deutsche, die mit Eifer schnell Position bezogen und vor allem für sich selbst Definitionsmacht behaupteten. Sie sprachen Menschen das Jüdischsein ab oder meinten, ein solches Jüdischsein bestätigen zu können."

    Das hat Tradition in Deutschland.

    Hermann Göring wird folgendes Zitat zugeschrieben:

    "Wer Jude ist, bestimme ich."