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Die Stimmung vor der WahlSind wir eigentlich bescheuert?

Der Wahlkampf ist vorbei, und das vorherrschende Gefühl ist Ernüchterung. Immerhin ist es jetzt wieder erlaubt, auf den Wähler zu schimpfen.

Ein Wahllokal in Wiesbaden bei der Bundestagswahl 2017 Foto: Michael Schick/imago-images

E s ist vorbei. Alles ist gesagt, von jeder, nicht nur einmal. Und man könnte sich jetzt freuen: Auf Jörg Schönenborn, auf die Grundschule um die Ecke, die man nur alle vier Jahre zum Wählen betritt. Überhaupt aufs Wählen, diesen Akt der Mitbestimmung, in der besten aller Welten, der repräsentativen Demokratie. Deine Stimme zählt! Du hast die Wahl!

Trotzdem spüre ich an diesem Wochenende nicht Euphorie. Das vorherrschende Gefühl bei vielen ist eher Erleichterung, und vorauseilende Ernüchterung.

Ich weiß, Wählerbeschimpfung ist keine gute Idee. Aber ich bin kein Politiker, und das hier ist keine demokratisch gewählte Kolumne. Sie können mich am Sonntag nicht abwählen, wenn Ihnen nicht passt, was ich schreibe. Deswegen habe ich eine simple Frage:

Sind Sie, sind wir eigentlich bescheuert?

Die Wahl ist offen – und doch stehen vier Ergebnisse schon fest:

1. Im Kern ist Deutschland eine Erbmonarchie. Anders lässt sich nicht erklären, dass ein Mann in den Umfragen führt, dessen zentrale Qualifikation ist, dass er schon da ist. Die Deutschen werden am liebsten von dem regiert, der ihnen sagt, dass sich nichts ändern darf, und das 16 Jahre am Stück. Das ist okay, aber trotzdem sollte die Frage erlaubt sein, warum man sich vor 100 Jahren die Mühe gemacht hat, den Kaiser zu verjagen.

2. Nicht genug, dass die Deutschen ihren König Olaf freiwillig wählen. Zum Mangel an Demokratie gehört auch, dass eine von zehn im Land nicht wählen darf, weil sie den falschen Pass hat. Und zwei weitere nicht zur Wahl gehen, weil sie arm sind und den Glauben daran verloren haben.

3. Wer doch wählt, ist die Mittelschicht. Und die ist so stolz, bei den Großen mitspielen zu dürfen, dass sie brav Parteien wählt, die sie selbst am stärksten belasten. Sehr viele WählerInnen werden wieder gegen ihre eigenen materiellen Inter­essen wählen. Das gilt etwa für Kleinbürgerinnen, die CDU wählen, deren Steuerprogramm eine Umverteilung von unten nach oben bedeutet. Warum? Vielleicht ist es christliche Nächstenliebe mit den Reichen, vielleicht Unwissenheit, Ressentiment und Abstiegsangst.

Aber auch die Wählerinnen von Grünen und SPD haben wenig Grund zur Hoffnung, dass die Versprechen aus den Wahlprogrammen umgesetzt werden: Mit wem sollte das passieren? Mit der FDP? Den Wählern der Liberalen kann man an dieser Stelle nur Respekt zollen: Die haben wenigstens Klassenbewusstsein.

4. Ein Ergebnis der Wahl dürfte sein, dass drei Mitte-links-Parteien wieder eine Mehrheit haben könnten, deren gemeinsames Programm das Leben vieler Menschen verbessern würde. Es geht um drei Parteien, deren Farbkombination hier nicht genannt werden muss, die einige Ziele teilen: Umverteilung von Reichtum, eine bessere Gesundheitsversorgung, das Ende von Hartz IV. Und trotzdem weiß jeder, dass es dazu nicht kommen wird. Nicht nur wegen ein paar Sektierern. Sondern weil der Widerstand zu groß sein dürfte. Ein linkes Bündnis würde eine massive Kampagne von Rechts auslösen, dieses Risiko gehen Scholz und Baerbock sicher nicht ein.

Es ist eine komische Stimmung, zwischen Spannung und Desillusionierung. Gewählt wird nicht, wer den überzeugendsten Plan für die Zukunft hat, sondern wer am wenigsten Fehler macht.

Selten war für die Wählerin so unklar, was mit ihrer Stimme passiert. Sie gibt sie ab und bekommt sie in vier Jahren wieder. Was dazwischen mit ihr passiert, ob jemand gut auf sie aufpasst? Ich habe leise Zweifel.

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Kersten Augustin
Ressortleiter Inland
Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.
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10 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Sowas gab`s noch nie!



    Alle Spitzenparteien mit den völlig falschen Kandidaten.



    Das merken die Wähler natürlich!

    Armleuchter bleiben halt Armleuchter, egal wie man es dreht und wendet.

  • Um die Frage der Überschrift zu beantworten: Ja, aber aus ganz anderen Gründen.

    1. Zunächst mal haben "wir" nicht den Kaiser verjagt. Und derzeit steht wenig überraschend der Kandidat vorne, der es als einziger vermieden hat, sich permanent zu blamieren. Was leider auch das einzig positive ist.

    2. Niemand ist nach D verschleppt worden. Die meisten sind doch freiwillig hier und kannten die hiesigen Verhältnisse. Kein Grund zum jammern also. Und Armut als Grund zum Nichtwählen... Naja.

    3. Eventuell haben diese Menschen aber auch nur mehr Kenntnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen als der Autor.

    4. Nö. Der Grund dürfte sein, dass man in Berlin und Thüringen feststellen musste, dass mit der Linken kaum vernünftig Staat zu machen ist.

    "Es ist eine komische Stimmung, zwischen Spannung und Desillusionierung. Gewählt wird nicht, wer den überzeugendsten Plan für die Zukunft hat, sondern wer am wenigsten Fehler macht." Dem stimme ich vollkommen zu. Und es ist auch richtig. Nur möglichst viel zu wollen ist eben keine Qualifikation

    • 3G
      32533 (Profil gelöscht)
      @Samvim:

      Ach. Wirklich?

      Berlin und Thüringen als negative Unterscheidungsmerkmale? Nee - oder?

      Wenn Qualität zum Regieren anno 2021 erforderlich wäre: die Regierungsbänke in Bund und Ländern wären ziemlich leer.

      Zwischen schwarz und weiß ist viel Platz. Aber nur mit einem Minimum an kognitiver Sehfähigkeit.

      • @32533 (Profil gelöscht):

        Die Wahl gesehen und gelacht...

  • 7G
    75787 (Profil gelöscht)

    Schöne Kolumne - kann als Handreichung für die morgige Wahl gelesen werden (bitte ausdrucken und mitnehmen), vielleicht kriegt dieses Land dann ja doch noch die so bitter notwendige Kurve. Dann müsste überm Eingang zum Kanzler*innenamt künftig nur noch die folgebnde Losung angebracht werden:

    „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“

  • 3G
    32533 (Profil gelöscht)

    Ob - um in der Terminologie des Autors zu bleiben - Herr Augustin sich auch während der Regentschaft von Angela I. an ihr abgearbeitet hat? Oder ist dies ein eher männliches Privileg?

    Sich noch vor der Inthronisation an Herrn Scholz abzuarbeiten, ist meines Erachtens verfrüht. Es könnten schließlich der Aachener Kandidat (und seine Partei) siegen, den man sich eher in der Bütt vorstellt. Ver-kohlen: das kann er ja.

    Das wichtige Thema, die Frage nach Haupt- oder Nebensächlichkeiten, hat Herr Augustin offenbar punktuell auf dem Schirm. Immerhinque.

    Ich werde das Ende der Merkel'schen Regentschaft feiern, so wie ich bereits das Ende der Regentschaft von Adenauer und Kohl exzessiv gefeiert habe. Im ersten Fall mit Berechtigung, im zweiten ohne. Doch das weiß man erst nachher.

    Alles Weitere dann auf der nächsten Stufe. Für die habe ich schon drei Getränke zur Auswahl. Aber das zu beschreiben wird mir jetzt zu persönlich.

    • @32533 (Profil gelöscht):

      Ich würde die Hoffnung auf einen Überraschungskandidaten mit gleichem Namen ja gern erhalten, aber OLAF Scholz ist längst inthronisiert, und für einige solange sie sich erinnern können, d.h. praktisch solange wie Merkel. Bis zuletzt übrigens als Vize-Kanzler, sein offenbar entscheidendes Argument für die letztmögliche und gefühlt unausweichliche Beförderung. Viele andere fallen mir auch nicht ein. Wenn das kein Ausdruck von Erbmonarchie und totaler Einfallslosigkeit ist, was dann? Von CDU-Siegen muss man lange nicht mehr fabulieren, von einem Kanzler Laschet noch weniger, an der Diagnose des Autors änderte der aber auch nichts. Und ein Mann ist der auch. Was hat Angela Merkel damit zu tun, dass das Kanzleramt noch 2021 zwischen zwei längst nicht mehr Volksparteien pendet als hätten wir ein System wie in den USA? Sie war vielleicht mal alternativlos, Scholz ist nur noch sinnlos.

      Das ist doch mit bescheuert gemeint. Es muss die unheimliche Macht der Gewohnheit sein, verstärkt durch ein erhebliches Maß an Ratlosigkeit, Unsicherheit und Zukunftssorge vieler, gerade Letzteres so unzweifelhaft wie es im öffentl. Wahlkampf fast krampfhaft ausgeblendet wurde. Immerhin das erfolgreich.

      Wie sich eine Rote-Socken-Kampagne erst nach dem Wahlkampf gestalten oder wen sie dann noch überzeugen sollte, wo sie schon jetzt nicht verfängt, ist eine andere Frage. Oder ein ganz merkwürdiger Versuch sich darauf einen Reim zu machen und demokratische Zumutung schönzureden. Haben SPD und Grüne im Parlament randaliert als schwarz-gelb regierte? Gab es einen Generalstreik? Bürgerkrieg? Der Union könnte nichts Besseres passieren als RRG, es ist auch nicht von ungefähr ihr einziges und Lieblingsthema. Wer Zweckbündnisse, das ist der Sinn und Grundgedanke einer Koalition, mit möglichem Widerstand wegerklärt, hat Demokratie nicht verstanden. Wir wählen auch nicht, damit der Bundestag die nächsten vier Jahre nur noch zur Zierde steht. Sonst wär ein Schloss wirklich besser.

      • 3G
        32533 (Profil gelöscht)
        @Tanz in den Mai:

        Besten Dank für Ihre Erklärungsversuche. Das kann man so sehen. Muss man aber nicht.

        Ich verstehe sowohl die Aussagen des Autors als auch Ihre. Allerdings teile ich sie nicht. Und das habe ich mit meinen Mittel im Post beschrieben.

        In Sachen Demokratieverständnis: es gibt, wie wir tagtäglich erleben, unterschiedliche. Da gilt es für mich, dies zu 'verhandeln'.

        Frau Merkel und ihre Politik waren niemals wirklich alternativlos. Alternativlos dumm war nur dieser Anspruch.

        Das kommt dabei heraus, wenn Agenturen Politik machen: Astronomische Kosten und semantisch-inhaltliches Geblubber.

        Politik schafft sich ab. Nicht erst seit Merkel. Rot-Grün hat 1998-2005 ein Fundament gelegt. Merkel hat ein weiteres Stockwerk draufgebaut.

        Wer Politik nur als Moderation versteht, kann sich Wahlen sparen. Das können ausgebildete Moderatoren und - ganz besonders - Mediatoren viel besser.

  • wie sagte Precht in einem Interview vor einem Jahr: die Partei die am meisten vom Klimawandel profitieren wird ist die AFD... und er wird recht behalten.

  • „Sind wir eigentlich bescheuert?“

    Nun - jedenfalls stellen gewöhnlich ja nur Bekloppte solche Fragen.