Generaldebatte im Abgeordnetenhaus: Time to say Goodbye
In der letzten Sitzung vor der Wahl herrscht Abschiedsstimmung im Parlament. Regierungschef Müller attackiert die neue AfD-Frontfrau.
Einige langjährige Abgeordnete scheiden aus, manche freiwillig wie Parlamentspräsident Ralf Wieland. Manche unfreiwillig wie eben der anerkannte Umweltpolitiker Buchholz, den die Spandauer SPD aussortierte. Auf der Treppe hat er gerade die grüne Wirtschaftssenatorin Ramona Pop getroffen, die wie er 2001 erstmals ins Parlament kam und nun nicht wieder kandidiert. Ob sie weiter als Senatorin im Plenarsaal zu sehen ist, hängt von Koalitionsverhandlungen und ihrer Partei ab.
Gut eineinhalb Stunden später steht drinnen ein anderer Abschiednehmer am Rednerpult, auch einer, der durchaus gern noch geblieben wäre. Aber Noch-Regierungschef Michael Müller, seit 1996 im Abgeordnetenhaus, kandidiert am 26. September für die Bundestagswahl und kann fast 100-prozentig davon ausgehen, dass das funktioniert. „Das ist ja vielleicht gar nicht meine letzte Rede in diesem Haus“, sagt Müller – bis ein neuer Senat steht, bleibt der alte im Amt und damit auch er. In den vorangehenden Reden hat sich seine rot-rot-grüne Koalition bei ihm bedankt, aber auch CDU und FDP haben ihn für Fairness und Vertrauen gelobt.
Bettina Jarasch, die als grüne Spitzenkandidatin statt ihrer Fraktionschefinnen spricht, offenbart dabei Richtung Müller: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, als wir Tage und Nächte miteinander verbracht haben.“ Gemeint sind die Koalitionsverhandlungen von Ende 2016, im Saal gibt es Gelächter. Als sich hingegen der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner im vergangenen Jahr ähnlich doppeldeutig über die Zusammenarbeit mit seiner vormaligen Generalsekretärin Linda Teuteberg äußerte, galt das als Sexismus.
Die jetzige 84. war die letzte Plenarsitzung, also Vollversammlung aller Parlamentarier, in dieser Legislaturperiode, der 18. in der Geschichte des 1950 erstmals gewählten Abgeordnetenhauses. Die Mandate der aktuell 160 Abgeordneten erlöschen jedoch nicht bereits mit der Neuwahl des Parlaments am 26. September. Das passiert erst in dem Moment, in dem sich das neu gewählte Parlament konstituiert, was Anfang November passieren soll. Bei dringenden Entscheidungen vorher könnte auch das bisherige nochmals zusammengerufen werden.
Wieder 160? Das Parlament hat mindestens 130 Mitglieder, ihre Zahl kann sich aber durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhen. (sta)
Wansner kommt wieder
Einer, bei dem man es altersgemäß anders hätte vermuten können, will weitermachen und ist am Morgen wieder mal gut gelaunt ins Parlament gekommen. Kurt Wansner, bald 74, Lieblingsfeind der Kreuzberger Grünen und dort „Kutte“ genannt, hat zwar keine Chancen auf einen Wahlkreissieg im links-grün-dominierten Bezirk, dürfte aber über die Kandidatenliste seiner Partei erneut ins Abgeordnetenhaus einziehen. Und nicht nur das: Wansner wäre dann nach jetzigem Stand der älteste Parlamentarier und würde die erste Sitzung als Alterspräsident eröffnen.
Das soll im November passieren, die Koalition dürfte dann noch nicht stehen – 2016 unterschrieben SPD, Linkspartei und Grüne Anfang Dezember ihren Bündnisvertrag. Die Nachwuchsorganisationen der drei Parteien hatten schon am Vortag angekündigt, dass sie nachmittags vor dem Parlament auf ein „Weiter mit Rot-Rot-Grün“ drängen wollen. Halbwegs realistische Alternativen sind nach aktuellem Umfragestand eine rot-schwarz-gelbe Koalition und ein Ampelbündnis aus SPD, Grünen und FDP.
Regierungschef Müller, der also durchaus nach der Wahl noch mal im Plenarsaal zu hören sein könnte, nutzt seine jetzige Rede nach einem Rückblick auf Erfolge vergangener Jahre zu einer Attacke auf die AfD. Konkreter: auf die zur Landeschefin und Spitzenkandidatin avancierte Kristin Brinker. Wie die sich im Parlament gibt, daran hat Müller nichts zu kritisieren.
Doch wo sie wirklich steht, will der Regierungschef tags zuvor in einem Radiointerview mit ihr gehört haben. Da habe Brinker auf die Frage, was sie bei einem AfD-Bundesvorsitzenden Höcke machen würde, rumgeeiert statt, wie Müller fordert, klar zu sagen: „Ein Faschist gehört nicht in die Politik, und davon grenze ich mich ab.“
Im Plenarsaal löst das lautstarke gegenseitige Anwürfe aus. Ein AfD-Abgeordnete ruft Müller mit zu einem Trichter geformten Händen gut ein Dutzend Mal „Hetzer“ zu, eine SPD-Parlamentarierin brüllt „Faschisten“ Richtung AfD. Nachdem sich der Trubel gelegt hat und Müller noch ein paar eigenlobende Worte für Berlin als Wissenschaftsstandort findet – er ist auch der zuständige Senator –, gehen seine letzten Worte nicht an die rund 150 Abgeordneten im Saal, sondern an alle 2,5 Millionen Berliner Wahlberechtigten: „Bitte gehen Sie zur Wahl – und wählen Sie eine demokratische Partei.“
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