Cem-Odos Güler über eine CD, die für Diskussionen sorgte: Der Teenager und die Welt der Verschwörungsmythen
Von irgendwo hatte mein Bruder wieder mal eine CD aufgetrieben. Mitte der 2000er Jahre verbrachten wir ganze Nachmittage vor dem Computer in unserem gemeinsamen Zimmer, und weil wir im Gegensatz zu vielen Freund*innen noch keinen Internetzugang hatten, versorgte er uns mit Filmen und Musik auf gebrannten CDs. Als ich die Doku mit Verschwörungsmythen zum 11. September 2001 sah, waren seit den Anschlägen vielleicht drei oder vier Jahre vergangen. Ich war ein junger Teenager.
Der Film zeigte eine Konferenz von Schwurbler*innen des selbst erklärten „9/11 Truth Movements“. Die Bilder von den Rauchsäulen und den einstürzenden Zwillingstürmen kannte ich. Sie hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt, als ich neun Jahre alt war. Aber die verschwörerischen Fantasien dazu, die kurz nach dem Anschlag aufgekommen waren, waren mir unbekannt.
Eigentlich glitten politische Diskussionen bei uns zu Hause öfter mal ins Verschwörerische ab, besonders dann, wenn irgendwelche Cousinen und Onkels zu Besuch kamen. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass sie in der Türkei politisch sozialisiert wurden. Dort riss in der jüngeren Geschichte ein ebenso unberechenbarer wie aufgeblähter Militärapparat viereinhalb Mal die Macht an sich, drei Putschversuche scheiterten außerdem … Da kann man schon mal paranoid werden.
In meinem kindlichen Denken hinterließen die 9/11-Mythen Eindruck. Ich sprach mit Klassenkamerad*innen über die Tragfähigkeit von Stahl oder über irgendwelche Blitze, die beim Aufprall der Flugzeuge zu sehen gewesen seien. Ich kann mich daran erinnern, dass ich in der Schule nicht der Einzige war, der mit „offenen Fragen“ ankam, so wie sie in dem Video bezeichnet wurden – auch Freund*innen ohne kurdische Onkels stellten diese Fragen.
Historiker*innen streiten sich heute darüber, ob der 11. September 2001 eine Zäsur ist und ob die Welt seit den Anschlägen eine andere ist, als sie es davor war. Für mich gab es keinen Einschnitt, weil ich die Welt eigentlich nur mit allem, was danach kam, kenne: Afghanistaneinsatz, Irakkrieg, Vorratsdatenspeicherung. Ich konnte meine Beobachtungen zu den Anschlägen nicht einordnen, auch nicht, als ich dieses Video anschaute oder mit Mitschüler*innen darüber sprach. Am 11. September 2001 habe ich noch nicht politisch gedacht.
Wahrscheinlich macht man es sich zu leicht, wenn man die Anschläge als eine Zäsur bezeichnet. Islamistischer Terror hat Kontinuität, die Kriege in Afghanistan und im Irak auch. Kontinuität haben auch die Verschwörungsmythen zum 11. September: Sie sind fast immer klar antisemitisch.
Das habe ich erst später gelernt. Ein früher Exkurs in die Welt der Verschwörer*innen hat mich aber sensibilisiert, heute wohl umso allergischer auf solche Denkmuster zu reagieren.
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