: Das ganz große Zaudern vor der epochalen Wahl
Klimagerechtigkeit ist kein verhandelbares Gut. Das wissen alle, die sich um die Nachfolge von Angela Merkel bewerben. Aber wer traut sich auszusprechen, dass das ohne Zumutungen nicht funktionieren kann? Ein Editorial zur Wahl-taz vor einer offenen Abstimmung
Von Barbara Junge und Ulrike Winkelmann
Mit leichter oder zuweilen auch größerer Verwunderung blicken politische Beobachter:innen aus dem Ausland nach Deutschland. Klar, das Ende der Ära Merkel ist ein tiefer Einschnitt – aber dass gleich mehrere Parteien darauf reagieren, indem sie die jeweils weniger charismatischen Kandidat:innen aufstellen, sieht nach einem Widerspruch aus. Und es ist nicht der einzige. Ein Sozialdemokrat tritt als Wiedergeburt von Angela Merkel an und hat – irre, oder? – tatsächlich eine Gewinnchance. Und in einer führenden Industrienation ist eine Regierungsbeteiligung der Grünen quasi gesetzt – unter Führung einer Frau, von der es heißt, Merkel könne sich vorstellen, sie zu wählen.
Übersetzt: Die Deutschen würden gerne jemand Sprödes behalten, sie möchten außerdem das Land ökologisch umkrempeln, aber selbst nichts davon merken.
Der inhaltliche Ausgangspunkt dieses Wahlkampfs liegt nicht in Berlin, sondern in Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat allen Parteien, die in Deutschland regieren wollen, eine Grundlinie gezogen: Klimaneutralität ist eine Frage der Generationengerechtigkeit, kein verhandelbares Gut im üblichen Spiel um Macht und Mandat.
Tempolimit oder Lastenräder sind dabei nur Symbole für eine Aufgabe, die so unvergleichlich viel größer ist, als der politische Wettstreit im Alltag es ahnen lässt. Die Anhebung der CO2-Preise ist notwendig. Aber wer traut sich, das sozialpolitisch zu vertreten? Wird die Industrie für die Kosten der schon verursachten Klimakrise in die Pflicht genommen – oder werden die Lasten weiterhin FDP-ig vergesellschaftet, die mit Planetüberhitzung eingefahrenen Gewinne dagegen privatisiert? Wird die künftige Regierung die notwendige Umrüstung von Städten, Industrie und Landwirtschaft ausreichend subventionieren, und wenn ja, mit welchem und wessen Steuergeld? Und wie werden wir zu einer umfassend inklusiven Gesellschaft, die allen die Chance gibt, am Umbau teilzuhaben? Unzählige Forschungsinstitute, innovative Firmen und gesellschaftliche Initiativen wurden in den vergangenen Jahren gegründet. Wird diese kollektive Energie für die Energie- und Industriewende unterstützt?
Bei den einen Kandidat:innen entsteht der Eindruck, sie hätten sich das Stichwort Klima bloß auf den Sprechzettel schreiben lassen, die anderen fassen es mit Grillhandschuhen an. Armin Laschet verspricht zwar ein Mehr an Klimapolitik, aber kein Weniger an individueller Konsumentscheidungsfreiheit. Olaf Scholz weiß, dass ohne Zumutungen gar kein Weg zur Klimaneutralität bis 2045 führt. Nur sagt er es lieber nicht, und wenn, dann nur umwunden-vernuschelt. Und die Grünen singen volkstümlich über den schriller werdenden Alarmton der Klimakrise hinweg. Denn eine echte Volkspartei tut ja keinem weh. Die FDP hat Klimapolitik erst vor Wochenfrist entdeckt, und die Linke, die Sozialpolitik und Klima immerhin in einem Satz verbinden kann, wird, bei Tageslicht betrachtet, in der Regierungsbildung keine Rolle spielen.
Wenn das Ausmaß der Klimaaufgabe von fast allen politisch Handelnden auf ein „Ich halte euch Ärger vom Hals“-Format heruntergedampft wird, braucht es unabhängige Stimmen nötiger denn je. Es muss sichtbar werden, welche Lösungsansätze längst entwickelt wurden, radikale Veränderungen müssen vorstellbar gemacht werden. Die taz war und ist im Land unterwegs, um diese Stimmen dazu einzusammeln, um Ideen bekannt zu machen, Diskussionen zu stiften und Zwischentöne aufzuzeichnen. All das bieten wir ab sofort für drei Wochen auf unseren täglichen sechs Sonderseiten und einem digitalen Schwerpunkt zur Bundestagswahl.
Klima soll zentral sein. Natürlich aber werden wir die Menschen in den Blick nehmen, die sich ganz akut um ihre wirtschaftliche Existenz sorgen oder aufgrund diskriminierender Strukturen gar nicht erst bei gesellschaftlichen Großthemen mitreden können. Was in Afghanistan unter den Taliban geschieht, ist uns ebenso wichtig wie der Kampf gegen die Ausbreitung neuer Coronamutanten. In Wahlkampfzeiten sind alle Antworten, die von Politiker:innen gefunden werden, für das Wahlverhalten relevant. All dies wird all die Sonderseiten ebenfalls prägen.
Und wenn es uns dann noch gelingt, nicht jede Berichterstattung im schrillen anklagenden Krisenton zu verfassen, wenn wir mit wenig bekannten Winkeln des Landes überraschen und mit besonders spannenden Menschen und Initiativen bereichern können, weil das Land ja trotz allem bunt, vielfältig, lebendig und immer wieder überraschend ist, dann haben zumindest wir unsere Mission erfüllt. Das Lesen dieser Sonderseiten und unseres digitalen Schwerpunkts soll ja Lust auf mehr machen, jeden Tag, drei Wochen lang.
Der Ausgang dieser für die Zukunft des Landes so epochalen Wahl ist offen. Es gibt – Stand heute – zu viele mögliche Regierungsbündnisse, als dass eine strategische Wahl nach Koalitionsarithmetik möglich wäre. Und wie zuverlässig die Umfrageergebnisse noch sind – zumal wenn immer mehr Menschen schon per Brief abgestimmt haben –, wird ja schon länger diskutiert. Bisher jedenfalls waren die Kandidat:innen allemal gut dafür, über merkwürdige Details zu stolpern.
„October surprise“ nennen die Amerikaner das, was vor der Wahl alles noch passieren kann. Wir gehen noch von ein paar „September surprises“ aus.
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