Rückkehr der Taliban nach Kabul: Deutsche Botschaft geschlossen
Noch hoffen Zehntausende afghanische Helfer auf Rettung durch die Bundesregierung. Doch die reagiert zu spät, kritisiert die Opposition.
Das Botschaftspersonal ist jetzt erst mal zum militärischen Teil des Kabuler Flughafens verlegt worden. Er habe für Sonntagnachmittag den Krisenstab der Bundesregierung einberufen, „um Sofortmaßnahmen zur Sicherung und zur Ausreise deutscher Bediensteter und weiterer gefährdeter Personen aus Afghanistan auf den Weg zu bringen“, teilte Außenminister Heiko Maas (SPD) via Twitter mit.
Omid Nouripour ist aufgebracht. „Es ist einfach nicht erträglich“, sagt der außenpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion. „Ich fürchte, es ist für ganz viele Leute zu spät.“ Die Taliban hätten zwar zugesagt, dass Ausländer:innen das Land verlassen könnten. Aber was mit den Afghan:innen ist, die für ausländische Institutionen gearbeitet haben, dazu hätten sie sich bislang nicht geäußert. „Ich befürchte, dass die Taliban sie nicht mehr rauslassen werden“, sagt Nouripour der taz.
Dann könnten nur noch jene mit Rettung rechnen, die sich bereits auf dem von US-Soldat:innen gesicherten Kabuler Flughafen befänden. Der Rest habe Pech gehabt. Und dabei gehe es um Zehntausende.
Keine Evaluation, keine Exit-Strategie
Allein die GIZ, die staatliche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, habe noch eine vierstellige Zahl von Ortskräften im Land. „Wenn nun afghanische Menschen sterben müssen, weil sie deutschen Behörden und Organisationen geholfen haben, dann trägt diese Bundesregierung dafür die Verantwortung“, empört sich der Grüne.
„Wir haben jahrelang von der Bundesregierung eine Exit-Strategie und eine Evaluation des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr gefordert“, pflichtet ihm die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, bei. Doch das sei nie geschehen. „Stattdessen müssen wir jetzt bei den dramatischen Entwicklungen zusehen, während die Bundesregierung auch noch die Menschen im Stich lässt, die uns jahrelang geholfen haben“, so Strack-Zimmermann zur taz. „Wir müssen nun endlich diesen Ortskräften helfen und dazu unsere Leute evakuieren.“
Den für den 31. August geplanten Großen Zapfenstreich vor dem Reichstag zur Würdigung des deutschen Afghanistaneinsatzes hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) jetzt erst mal bis auf Weiteres verschoben.
Das gilt auch für den Abschlussappell, der am selben Tag im Bendlerblock hatte stattfinden sollen. Ebenso sagte die Ministerin eine für den 25. August in Berlin geplante Veranstaltung ab, auf der der fast 20-jährige Afghanistankrieg hatte bilanziert werden sollen.
Seehofer: Bündnistreue wichtiger als Stabilität
„Für eine sachgerechte Bilanzierung und eine Würdigung ist vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Afghanistan jetzt nicht der richtige Zeitpunkt“, teilte Kramp-Karrenbauer mit. „Es hat jetzt absolute Priorität, dass wir die zu Schützenden sicher nach Deutschland bringen.“ Eine späte Erkenntnis.
„Das Ganze ist an Unverantwortlichkeit nicht zu übertreffen“, kritisiert die Linkspartei-Vorsitzende Janine Wissler. „Die Bundesregierung hat trotz zahlreicher Warnungen viel zu lange gewartet, um Menschen auszufliegen.“ Es sei völlig unverständlich, warum die Ausreise für die unterstützenden Kräfte vor Ort nicht viel früher organisiert worden sei. „Man hat sie beim Abzug im Stich gelassen“, konstatiert Wissler gegenüber der taz. „Das Verhalten der Bundesregierung ist schäbig.“
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bezeichnete den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch als gescheitert. „Das große Ziel war es, die Lebensbedingungen für die Menschen zu verbessern und Stabilität ins Land zu bringen“, sagte er der Augsburger Allgemeinen. „Heute muss man leider festhalten: Das ist gescheitert.“
Gleichwohl rechtfertige Seehofer die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg der USA. „Die Motivation für den Einsatz in Afghanistan war damals berechtigt“, sagte er. Einer der wichtigsten Gründe sei „die Bündnistreue gegenüber den Amerikanern“ gewesen. Nun sei damit zu rechnen, „dass sich Menschen in Bewegung setzen, auch in Richtung Europa“. Das sei „keine Angstmache, sondern eine realistische Beschreibung der Situation“.
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