Aufnahme von afghanischen Geflüchteten: Ein moralisches Dilemma
Wen zuerst aus Afghanistan rausholen? Gefährdete, die sich verstecken oder die, die es an den Flughafen schaffen? Jetzt heißt es: pragmatisch vorgehen.
T ausende Demonstrierende gehen in Deutschland auf die Straße, um für eine Aufnahme von gefährdeten Menschen aus Afghanistan zu protestieren. Sie haben gute und richtige Gründe: Es kann nicht angehen, dass nur diejenigen eine Aufnahme finden, die als Ortskräfte der Bundeswehr geholfen haben. Die Taliban bedrohen Frauenrechtlerinnen und Journalisten, Menschenrechtler, Entwicklungshelfer, Demokratinnen und überhaupt alle, die sich den Vorstellungen einer islamistischen Gesellschaft entgegenstellen.
All diesen Menschen Schutz zu gewähren, ist das Mindeste, was die demokratischen Staaten nach dem Afghanistan-Desaster jetzt leisten müssen, wenn ihre Vorstellungen von Menschenrechten mehr als nur das Papier wert sein sollen. Die Zahl dieser Schutzsuchenden zählt nach Hunderttausenden – und nicht nach der begrenzten Zahl, die tatsächlich ausgeflogen werden soll. Wie aber kann das bewerkstelligt werden?
Soll man all diejenigen ausfliegen, die in die Nähe des Flughafens von Kabul gekommen sind in der Hoffnung, irgendwie das Land zu verlassen? Oder ist es sinnvoller, erst einmal die zu retten, die in existenzieller Gefahr schweben und denen man diese Hilfe versprochen hat? Absehbar ist dabei, dass sich das Zeitfenster der Hilfe schon bald schließen wird, sei es aufgrund der Anordnungen der Taliban oder der US-Regierung.
Bei diesem moralischen Dilemma gibt es keine einfache Antwort. Es kann nicht richtig sein, dass halbleere Maschinen abfliegen, nur weil sich gerade im Chaos nicht genügend Menschen finden, die einen berechtigten Anspruch zur Ausreise besitzen. Es wäre aber auch falsch, die am Flughafen Wartenden aufzunehmen, während für diejenigen, die versteckt auf ihre Rettung warten, die Zeitspanne für Hilfe verrinnt.
Und es könnte die Lage am Flughafen endgültig außer Kontrolle bringen, wenn sich in Kabul herumsprechen würde, dass dort eine Ausreise garantiert wäre. Es gibt für dieses Dilemma keine moralisch einwandfreie Lösung. Die in Kabul eingesetzten Bundeswehrsoldaten müssen pragmatisch handeln und retten, wer zu retten ist. Es ist absehbar, dass nicht alle dringend Schutzbedürftigen gerettet werden können.
Ebenso gewiss ist es, dass nicht jeder, der am Airport Hitze und Durst trotzt, das Land wird verlassen können. Vor einigen Tagen ging eine Meldung um die Welt, dass eine einzige US-Militärmaschine 823 Menschen ausgeflogen hat. Das Flugzeug war in Kabul von Verzweifelten gestürmt worden und die Besatzung entschied, diese Menschen nicht wieder von Bord zu zwingen. Ihr Vorgehen entsprach wohl kaum den Richtlinien. Aber es zeigte Menschlichkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“